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Krieges von 1866 gesehen. Und mit der Leidenschaft einer Florence
Nightingale sah sie nur eine Aufgabe für sich im Leben: einen zweiten Krieg,
den Krieg überhaupt, zu verhindern. Sie schrieb einen Roman ›Die Waffen
nieder‹, der einen Welterfolg hatte, sie organisierte unzählige pazifistische
Versammlungen, und der Triumph ihres Lebens war, daß sie Alfred Nobel,
dem Erfinder des Dynamits, das Gewissen erweckte, als Entgelt für das
Unheil, das er mit seinem Dynamit angerichtet, den Nobelpreis für Frieden
und internationale Verständigung zu stiften. Sie kam ganz erregt auf mich zu.
»Die Menschen begreifen nicht, was vorgeht«; schrie sie ganz laut auf der
Straße, so still, so gütig gelassen sie sonst sprach. »Das war schon der Krieg,
und sie haben wieder einmal alles vor uns versteckt und geheimgehalten.
Warum tut ihr nichts, ihr jungen Leute? Euch geht es vor allem an! Wehrt
euch doch, schließt euch zusammen! Laßt nicht immer alles uns paar alte
Frauen tun, auf die niemand hört.« Ich erzählte ihr, daß ich nach Paris ginge;
vielleicht könnte man wirklich eine gemeinsame Manifestation versuchen.
»Warum nur vielleicht?« drängte sie. »Es steht schlimmer als je, die Maschine
ist doch schon im Gang.« Ich hatte, selbst beunruhigt, Mühe, sie zu
beruhigen.
Aber gerade in Frankreich sollte ich durch eine zweite, persönliche Episode
erinnert werden, wie prophetisch die alte Frau, die man in Wien wenig ernst
nahm, die Zukunft gesehen. Es war eine ganz kleine Episode, aber für mich
besonders eindrucksvoll. Ich war im Frühjahr 1914 mit einer Freundin aus
Paris für einige Tage in die Touraine gefahren, um das Grab Leonardo da
Vincis zu sehen. Wir waren die milden und sonnigen Ufer der Loire
entlanggewandert und abends herzhaft müde. So beschlossen wir, in der etwas
verschlafenen Stadt Tours, in der ich zuvor dem Geburtshaus Balzacs meine
Reverenz abgestattet hatte, ins Kino zu gehen.
Es war ein kleines Vorstadtkino, in nichts noch ähnlich den neuzeitlichen
Palästen aus Chrom und blinkendem Glas. Nur ein notdürftig adaptierter Saal,
gefüllt mit kleinen Leuten, Arbeitern, Soldaten, Marktfrauen, richtigem Volk,
das gemütlich schwatzte und trotz des Rauchverbots blaue Wolken von
Scaferlati und Caporal in die stickige Luft blies. Zuerst liefen die
›Neuigkeiten aus aller Welt‹ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England:
die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade:
auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: ›Kaiser
Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien‹. Auf einmal sah ich auf der
Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit
ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal:
der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen
Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf derLeinwand erschien und, ein
bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286