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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 157 -
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Krieges von 1866 gesehen. Und mit der Leidenschaft einer Florence Nightingale sah sie nur eine Aufgabe für sich im Leben: einen zweiten Krieg, den Krieg überhaupt, zu verhindern. Sie schrieb einen Roman ›Die Waffen nieder‹, der einen Welterfolg hatte, sie organisierte unzählige pazifistische Versammlungen, und der Triumph ihres Lebens war, daß sie Alfred Nobel, dem Erfinder des Dynamits, das Gewissen erweckte, als Entgelt für das Unheil, das er mit seinem Dynamit angerichtet, den Nobelpreis für Frieden und internationale Verständigung zu stiften. Sie kam ganz erregt auf mich zu. »Die Menschen begreifen nicht, was vorgeht«; schrie sie ganz laut auf der Straße, so still, so gütig gelassen sie sonst sprach. »Das war schon der Krieg, und sie haben wieder einmal alles vor uns versteckt und geheimgehalten. Warum tut ihr nichts, ihr jungen Leute? Euch geht es vor allem an! Wehrt euch doch, schließt euch zusammen! Laßt nicht immer alles uns paar alte Frauen tun, auf die niemand hört.« Ich erzählte ihr, daß ich nach Paris ginge; vielleicht könnte man wirklich eine gemeinsame Manifestation versuchen. »Warum nur vielleicht?« drängte sie. »Es steht schlimmer als je, die Maschine ist doch schon im Gang.« Ich hatte, selbst beunruhigt, Mühe, sie zu beruhigen. Aber gerade in Frankreich sollte ich durch eine zweite, persönliche Episode erinnert werden, wie prophetisch die alte Frau, die man in Wien wenig ernst nahm, die Zukunft gesehen. Es war eine ganz kleine Episode, aber für mich besonders eindrucksvoll. Ich war im Frühjahr 1914 mit einer Freundin aus Paris für einige Tage in die Touraine gefahren, um das Grab Leonardo da Vincis zu sehen. Wir waren die milden und sonnigen Ufer der Loire entlanggewandert und abends herzhaft müde. So beschlossen wir, in der etwas verschlafenen Stadt Tours, in der ich zuvor dem Geburtshaus Balzacs meine Reverenz abgestattet hatte, ins Kino zu gehen. Es war ein kleines Vorstadtkino, in nichts noch ähnlich den neuzeitlichen Palästen aus Chrom und blinkendem Glas. Nur ein notdürftig adaptierter Saal, gefüllt mit kleinen Leuten, Arbeitern, Soldaten, Marktfrauen, richtigem Volk, das gemütlich schwatzte und trotz des Rauchverbots blaue Wolken von Scaferlati und Caporal in die stickige Luft blies. Zuerst liefen die ›Neuigkeiten aus aller Welt‹ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England: die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade: auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: ›Kaiser Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien‹. Auf einmal sah ich auf der Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal: der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf derLeinwand erschien und, ein bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten 157
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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