Seite - 158 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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die Leute aus Tours gutmütig über den alten Herrn mit dem weißen
Backenbart. Dann fuhr auf dem Bilde der Zug ein, der erste, der zweite, der
dritte Waggon. Die Tür des Salonwagens öffnete sich und heraus stieg, den
Schnurrbart hoch gesträubt, in österreichischer Generalsuniform, Wilhelm II.
In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz
spontan in dem dunklen Räume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie
und pfiff, Frauen, Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich
beleidigt hätte. Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten
von Panik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde
toll geworden. Ich erschrak. Ich erschrak bis tief ins Herz hinein. Denn ich
spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte
Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen
Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten bereits dermaßen gegen den
Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, daß selbst ein
flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten
konnte. Es war nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde. Als dann wieder
andere Bilder kamen, war alles vergessen. Die Leute lachten über den jetzt
abrollenden komischen Film aus vollen Bäuchen und schlugen sich vor
Vergnügen auf die Knie, daß es krachte. Es war nur eine Sekunde gewesen,
aber doch eine, die mir zeigte, wie leicht es sein könnte, im Augenblick
ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen
Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen.
Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich
das in Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so
erschüttert. Aber daß bis tief in die Provinz, bis tief in das gutmütige, naive
Volk der Haß sich eingefressen, ließ mich schauern. In den nächsten Tagen
erzählte ich die Episode den Freunden; die meisten nahmen sie nicht ernst:
»Was haben wir Franzosen über die dicke Königin Victoria gespottet, und
zwei Jahre später hatten wir ein Bündnis mit England. Du kennst die
Franzosen nicht, bei denen geht Politik nicht tief.« Nur Rolland sah es anders.
»Je naiver das Volk ist, um so leichter, es herumzubekommen. Es steht
schlecht, seit Poincare gewählt ist. Seine Reise nach Petersburg wird keine
Vergnügungsreise sein.« Wir sprachen noch lange über den internationalen
Sozialistenkongreß, der für den Sommer nach Wien einberufen war, aber auch
hier empfand Rolland skeptischer als die andern. »Wieviele standhalten
werden, wenn einmal die Mobilisierungsordres angeklebt sind, wer weiß es?
Wir sind in eine Zeit der Massenempfindungen, der Massenhysterien geraten,
deren Gewalt im Kriegsfall noch gar nicht abzusehen ist.«
Aber, ich sagte es schon, solche Augenblicke der Sorge flogen vorbei wie
Spinnweb im Winde. Wir dachten zwar ab und zu an den Krieg, aber nicht
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286