Seite - 163 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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immer aus der Geschichte verschwunden.
Aber da begannen nach ungefähr einer Woche plötzlich Plänkeleien in den
Zeitungen, deren Crescendo zu gleichzeitig war, um ganz zufällig zu sein. Die
serbische Regierung wurde des Einverständnisses beschuldigt, und es wurde
mit halben Worten angedeutet, daß Österreich diesen Mord seines – angeblich
so geliebten – Thronfolgers nicht ungesühnt lassen dürfe. Man konnte sich
des Eindrucks nicht erwehren, daß sich irgendeine Aktion publizistisch
vorbereite, aber niemand dachte an Krieg. Weder Banken noch Geschäfte und
Privatleute änderten ihre Dispositionen. Was ging es uns an, dieses ewige
Geplänkel mit Serbien, das, wie wir alle wußten, im Grunde nur über ein paar
Handelsverträge wegen serbischen Schweineexports entstanden war? Meine
Koffer waren für die Reise nach Belgien zu Verhaeren gepackt, meine Arbeit
in gutem Zuge, was hatte der tote Erzherzog in seinem Sarkophag zu tun mit
meinem Leben? Der Sommer war schön wie nie und versprach noch schöner
zu werden; sorglos blickten wir alle in die Welt. Ich erinnere mich, wie ich
noch am letzten Tage in Baden mit einem Freunde durch die Weinberge ging
und ein alter Weinbauer zu uns sagte: »So ein’ Sommer wie den haben wir
schon lange nicht gehabt. Wenn’s so bleibt, dann kriegen wir einen Wein wie
nie. An den Sommer werden die Leut’ noch denken!«
Aber er wußte nicht, der alte Mann in seinem blauen Küferrock, welch ein
grauenhaft wahres Wort er damit aussprach.
Auch in Le Coq, dem kleinen Seebad nahe bei Ostende, wo ich zwei
Wochen verbringen wollte, ehe ich wie alljährlich Gast in dem kleinen
Landhause Verhaerens war, herrschte die gleiche Sorglosigkeit. Die
Urlaubsfreudigen lagen unter ihren farbigen Zelten am Strande oder badeten,
die Kinder ließen Drachen steigen, vor den Kaffeehäusern tanzten die jungen
Leute auf der Digue. Alle denkbaren Nationen fanden sich friedlich
zusammen, man hörte insbesondere viel deutsch sprechen, denn wie
alljährlich entsandte das nahe Rheinland seine sommerlichen Feriengäste am
liebsten an den belgischen Strand. Die einzige Störung kam von den
Zeitungsjungen, die, um den Verkauf zu fördern, die drohenden Überschriften
der Pariser Blätter laut ausbrüllten: »L’Autriche provoque la Russie«,
»L’Allemagne prépare la mobilisation«. Man sah, wie sich die Gesichter der
Leute, wenn sie die Zeitungen kauften, verdüsterten, aber immer bloß für ein
paar Minuten. Schließlich kannten wir diese diplomatischen Konflikte schon
seit Jahren; sie waren immer in letzter Stunde, bevor es ernst wurde, glücklich
beigelegt worden. Warum nicht auch diesmal? Eine halbe Stunde später sah
man dieselben Leute schon wieder vergnügt prustend im Wasser plätschern,
die Drachen stiegen, die Möwen flatterten, und die Sonne lachte hell und
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286