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gekommen war, dann konnte es nur gegen den Willen ihrer eigenen
Staatsmänner geschehen sein; sie selbst konnten keine Schuld haben, niemand
im ganzen Lande hatte die geringste Schuld. Also mußten drüben im anderen
Lande die Verbrecher, die Kriegstreiber sein; es war Notwehr, daß man zur
Waffe griff, Notwehr gegen einen schurkischen und tückischen Feind, der
ohne den geringsten Grund das friedliche Österreich und Deutschland
›überfiel‹. 1939 dagegen war dieser fast religiöse Glaube an die Ehrlichkeit
oder zumindest an die Fähigkeit der eigenen Regierung in ganz Europa schon
geschwunden. Man verachtete die Diplomatie, seit man erbittert gesehen, wie
sie in Versailles die Möglichkeit eines dauernden Friedens verraten; die
Völker erinnerten sich zu deutlich, wie schamlos man sie um die
Versprechungen der Abrüstung, der Abschaffung der Geheimdiplomatie
betrogen. Im Grunde hatte man 1939 vor keinem einzigen der Staatsmänner
Respekt, und niemand vertraute ihnen gläubig sein Schicksal an. Der kleinste
französische Straßenarbeiter spottete über Daladier, in England war seit
München – ›peace for our time!‹ – jedes Vertrauen in die Weitsicht
Chamberlains geschwunden, in Italien, in Deutschland sahen die Massen voll
Angst auf Mussolini und Hitler: wohin wird er uns wieder treiben? Freilich,
man konnte sich nicht wehren, es ging um das Vaterland: so nahmen die
Soldaten das Gewehr, so ließen die Frauen ihre Kinder ziehen, aber nicht
mehr wie einst in dem unverbrüchlichen Glauben, das Opfer sei
unvermeidlich gewesen. Man gehorchte, aber man jubelte nicht. Man ging an
die Front, aber man träumte nicht mehr, ein Held zu sein; schon fühlten die
Völker und die einzelnen, daß sie nur Opfer waren entweder irdischer,
politischer Torheit oder einer unfaßbaren und böswilligen Schicksalsgewalt.
Und dann, was wußten 1914, nach fast einem halben Jahrhundert des
Friedens, die großen Massen vom Kriege? Sie kannten ihn nicht, sie hatten
kaum je an ihn gedacht. Er war eine Legende, und gerade die Ferne hatte ihn
heroisch und romantisch gemacht. Sie sahen ihn immer noch aus der
Perspektive der Schullesebücher und der Bilder in den Galerien: blendende
Reiterattacken in blitzblanken Uniformen, der tödliche Schuß jeweils
großmütig mitten durchs Herz, der ganze Feldzug ein schmetternder
Siegesmarsch – »Weihnachten sind wir wieder zu Hause«, riefen im August
1914 die Rekruten lachend den Müttern zu. Wer in Dorf und Stadt erinnerte
sich noch an den ›wirklichen‹ Krieg? Bestenfalls ein paar Greise, die 1866,
gegen Preußen, den Bundesgenossen von diesmal, gekämpft, und was für ein
geschwinder, unblutiger, ferner Krieg war das gewesen, ein Feldzug von drei
Wochen und ohne viel Opfer zu Ende, ehe man erst Atem geholt! Ein rascher
Ausflug ins Romantische, ein wildes und männliches Abenteuer – so malte
sich der Krieg 1914 m der Vorstellung des einfachen Mannes, und die jungen
Menschen hatten sogar ehrliche Angst, sie könnten das Wundervoll-
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286