Seite - 172 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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am wildesten tobte, und so sangen und schrien sie hüben und drüben in
wildem Chor.
Der typischste, der erschütterndste Fall einer solchen ehrlichen und
zugleich unsinnigen Ekstase war für mich der Ernst Lissauers. Ich kannte ihn
gut. Er schrieb kleine, knappe, harte Gedichte und war dabei der gutmütigste
Mensch, den man sich denken konnte. Noch heute erinnere ich mich, wie ich
die Lippen fest zusammenbeißen mußte, um ein Lächeln zu verstecken, als er
mich das erste Mal besuchte. Unwillkürlich hatte ich mir diesen Lyriker als
einen schlanken, hartknochigen jungen Mann vorgestellt nach seinen
deutschen, markigen Versen, die in allem die äußerste Knappheit suchten.
Herein in mein Zimmer aber schwankte, dick wie ein Faß, ein gemütliches
Gesicht über einem doppelten Doppelkinn, ein behäbiges Männchen,
übersprudelnd vor Eifer und Selbstgefühl, sich überstotternd im Wort,
besessen vom Gedicht und durch keine Gegenwehr abzuhalten, seine Verse
immer wieder zu zitieren und zu rezitieren. Mit allen seinen Lächerlichkeiten
mußte man ihn doch liebgewinnen, weil er warmherzig war,
kameradschaftlich, ehrlich und von einer fast dämonischen Hingabe an seine
Kunst.
Er stammte aus einer vermögenden deutschen Familie, war im Friedrich-
Wilhelms-Gymnasium in Berlin erzogen worden und vielleicht der
preußischste oder preußisch-assimilierteste Jude, den ich kannte. Er sprach
keine andere lebende Sprache, er war nie außerhalb Deutschlands gewesen.
Deutschland war ihm die Welt, und je deutscher etwas war, um so mehr
begeisterte es ihn. Yorck und Luther und Stein waren seine Helden, der
deutsche Freiheitskrieg sein liebstes Thema, Bach sein musikalischer Gott; er
spielte ihn wunderbar trotz seiner kleinen, kurzen, dicken, schwammigen
Finger. Niemand kannte besser die deutsche Lyrik, niemand war verliebter,
verzauberter in die deutsche Sprache – wie viele Juden, deren Familien erst
spät in die deutsche Kultur getreten, war er gläubiger an Deutschland als der
gläubigste Deutsche.
Als dann der Krieg ausbrach, war es sein erstes, hinzueilen in die Kaserne
und sich als Freiwilliger zu melden. Und ich kann mir das Lachen der
Feldwebel und Gefreiten denken, als diese dicke Masse die Treppe
heraufkeuchte. Sie schickten ihn sofort weg. Lissauer war verzweifelt; aber
wie die andern wollte er nun Deutschland wenigstens mit dem Gedicht
dienen. Für ihn war alles verbürgteste Wahrheit, was deutsche Zeitungen und
der deutsche Heeresbericht meldeten. Sein Land war überfallen worden, und
der schlimmste Verbrecher, ganz wie es die Wilhelmstraße inszeniert hatte,
jener perfide Lord Grey, der englische Außenminister. Diesem Gefühl, daß
England der Hauptschuldige gegen Deutschland und an dem Kriege sei, gab
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286