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wunderbar Rolland seine Menschlichkeit bewährte. Er hatte den einzig
richtigen Weg gefunden, den der Dichter in solchen Zeiten persönlich zu
nehmen hat: nicht mitzutun an der Zerstörung, am Mord, sondern – nach dem
großartigen Beispiel Walt Whitmans, der als Krankenpfleger im
Sezessionskriege gedient – tätig zu sein an Werken der Hilfe und der
Menschlichkeit. In der Schweiz lebend, durch seine schwankende Gesundheit
jedweden Kriegsdienstes enthoben, hatte er sich in Genf, wo er sich bei
Kriegsausbruch befand, sofort dem ›Roten Kreuz‹ zur Verfügung gestellt und
arbeitete dort in den überfüllten Räumen Tag für Tag an dem wundervollen
Werke, dem ich dann später versuchte, in einem Aufsatz ›Das Herz Europas‹
öffentlichen Dank zu sagen. Nach den mörderischen Schlachten der ersten
Wochen war jede Verbindung abgerissen; in allen Ländern wußten die
Angehörigen nicht, ob ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Vater gefallen oder nur
vermißt oder gefangen sei, und sie wußten nicht, bei wem sie anfragen
sollten, denn vom ›Feinde‹ war keine Auskunft zu erwarten. Da hatte das
›Rote Kreuz‹ die Aufgabe übernommen, inmitten des Grauens und der
Grausamkeit den Menschen wenigstens die grimmigste Qual abzunehmen:
die folternde Ungewißheit über das Schicksal geliebter Menschen, indem es
aus den gegnerischen Ländern den Briefwechsel der Gefangenen nach der
Heimat leitete. Freilich, die seit Jahrzehnten vorbereitete Organisation war
nicht gefaßt gewesen auf solche Dimensionen und Millionenzahlen; täglich,
stündlich mußte die Zahl der freiwilligen Hilfsarbeiter vermehrt werden, denn
jede Stunde quälenden Wartens bedeutete für die Angehörigen eine Ewigkeit.
Ende Dezember 1914 waren es schon dreißigtausend Briefe, die jeder Tag
heranschwemmte, schließlich drängten sich in dem engen Musée Rath in
Genf zwölfhundert Menschen zusammen, um die tägliche Post zu bewältigen,
zu beantworten. Und mitten unter ihnen arbeitete, statt egoistisch seine eigene
Arbeit zu tun, der menschlichste unter den Dichtern: Romain Rolland.
Aber er hatte auch seine andere Pflicht nicht vergessen, die Pflicht des
Künstlers, seine Überzeugung auszusprechen und sei es auch gegen den
Widerstand seines Landes und sogar den Unwillen der ganzen kriegführenden
Welt. Schon im Herbst 1914, da die meisten Schriftsteller sich in Haß
überschrien und gegeneinander geiferten und belferten, hatte er jenes
denkwürdige Bekenntnis ›Au-dessus de la mêlée‹ geschrieben, in dem er den
geistigen Haß zwischen den Nationen bekämpfte und von dem
Künstler Gerechtigkeit und Menschlichkeit selbst mitten im Krieg forderte –
diesen Aufsatz, der wie kein anderer jener Zeit die Meinungen erregte und
eine ganze Literatur des Dagegen und Dafür hinter sich zog.
Denn dies unterschied den Ersten Weltkrieg wohltätig vom Zweiten: das
Wort hatte damals noch Gewalt. Es war noch nicht zu Tode geritten von der
organisierten Lüge, der ›Propaganda‹, die Menschen hörten noch auf das
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286