Seite - 184 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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das furchtbare Elend der Zivilbevölkerung, über deren Augen das Grauen
über das Erlebte noch wie ein Schatten lag. Ich sah das nie geahnte Elend der
jüdischen Ghettobevölkerung, die zu acht, zu zwölft in ebenerdigen oder
unterirdischen Zimmern wohnte. Und ich sah zum erstenmal den ›Feind‹. In
Tarnow stieß ich auf den ersten Gefangenentransport russischer Soldaten. Sie
saßen eingezäunt in einem großen Viereck auf der Erde, rauchten und
schwätzten, von zwei oder drei Dutzend älteren, meist bärtigen Tiroler
Landsturmsoldaten bewacht, die ebenso abgerissen und verwahrlost waren
wie die Gefangenen und sehr wenig den schmucken, wohlrasierten, blank
uniformierten Soldaten glichen, wie sie bei uns zu Hause in den illustrierten
Zeitungen abgebildet waren. Aber diese Bewachung hatte nicht den
geringsten martialischen oder drakonischen Charakter. Die Gefangenen
zeigten keine wie immer geartete Neigung, zu entfliehen, die österreichischen
Landsturmleute keineswegs den Wunsch, die Bewachung streng zu nehmen.
Sie saßen kameradschaftlich mit den Gefangenen zusammen, und gerade daß
sie sich in ihren Sprachen nicht verständigen konnten, machte beiden Seiten
außerordentlichen Spaß. Man tauschte Zigaretten aus, lachte sich an. Ein
Tiroler Landsturmmann holte gerade aus einer sehr alten und schmutzigen
Brieftasche die Photographien seiner Frau und seiner Kinder und zeigte sie
den ›Feinden‹, die sie einer nach dem anderen bewunderten und mit den
Fingern fragten, ob dieses Kind drei Jahre alt sei oder vier. Unwiderstehlich
hatte ich das Gefühl, daß diese primitiven, einfachen Menschen den Krieg
viel richtiger empfanden als unsere Universitätsprofessoren und Dichter:
nämlich als ein Unglück, das über sie gekommen war und für das sie nichts
konnten, und daß eben jeder, der in dieses Malheur geraten war, eine Art
Bruder sei. Diese Erkenntnis begleitete mich tröstlich auf der ganzen Fahrt,
vorbei an den zerschossenen Städten und geplünderten Geschäften, deren
Möbel wie gebrochene Glieder und herausgerissene Eingeweide mitten auf
der Straße lagen. Auch gaben mir die wohlbestellten Felder zwischen den
Kriegsgebieten die Hoffnung, daß in ein paar Jahren alle die Zerstörungen
wieder verschwunden sein würden. Freilich konnte ich damals noch nicht
ermessen, daß ebenso rasch wie die Spur des Krieges vom Antlitz der Erde
auch die Erinnerung an sein Grauen aus dem Gedächtnis der Menschen
entschwinden könnte.
Dem eigentlich Grausigen des Krieges war ich in den ersten Tagen noch
nicht begegnet; sein Antlitz übertraf dann meine schlimmsten Befürchtungen.
Da soviel wie gar keine regelmäßigen Passagierzüge verkehrten, fuhr ich
einmal auf offenen Artilleriewagen, auf der Protze einer Kanone sitzend, ein
anderesmal in einem jener Viehwagen, wo die Menschen im Gestank
übereinander und durcheinander todmüde schliefen und, während man sie zur
Schlachtbank führte, selbst schon ähnlich waren geschlachtetem Vieh. Aber
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286