Seite - 188 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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es nicht dies, mein Volk, das immer wieder besiegt worden war von allen
Völkern, immer wieder, immer wieder, und doch sie überdauert dank einer
geheimnisvollen Kraft – eben jener Kraft, die Niederlage zu verwandeln
durch den Willen, sie immer und immer wieder zu bestehen? Hatten sie es
nicht vorausgewußt, unsere Propheten, dies ewige Gejagtsein und
Vertriebensein, das uns auch heute wieder wie Spreu über die Straßen wirft,
und hatten sie dies Unterliegen unter der Gewalt nicht bejaht und sogar als
einen Weg zu Gott gesegnet? War Prüfung nicht ewig von Gewinn für alle
und für den einzelnen gewesen – ich fühlte dies beglückt, während ich an
diesem Drama schrieb, dem ersten, das ich von meinen Büchern vor mir
selbst gelten ließ. Ich weiß heute: ohne all das, was ich mitfühlend,
vorausfühlend damals während des Krieges gelitten, wäre ich der
Schriftsteller geblieben, der ich vor dem Kriege gewesen, ›angenehm
bewegt‹, wie man im Musikalischen sagt, aber nie gefaßt, erfaßt, getroffen bis
in die innersten Eingeweide. Jetzt zum erstenmal hatte ich das Gefühl,
gleichzeitig aus mir selbst zu sprechen und aus der Zeit. Indem ich versuchte,
den andern zu helfen, habe ich damals mir selbst geholfen: zu meinem
persönlichsten, privatesten Werk neben dem ›Erasmus‹, in dem ich mich 1934
in Hitlers Tagen aus einer ähnlichen Krise emporrang. Von dem Augenblicke,
da ich versuchte, sie zu gestalten, litt ich nicht mehr so schwer an der
Tragödie der Zeit.
An einen sichtbaren Erfolg dieses Werkes hatte ich nicht einen Augenblick
geglaubt. Durch die Begegnung so vieler Probleme, des prophetischen, des
pazifistischen, des jüdischen, durch die choralische Formung der
Schlußszenen, die aufsteigen in einen Hymnus des Besiegten an sein
Schicksal, war der Umfang dieser Dichtung dermaßen über den normalen
eines Dramas hinausgewachsen, daß eine richtige Aufführung eigentlich zwei
oder drei Theaterabende erfordert hätte. Und dann – wie sollte ein Stück auf
die deutsche Bühne kommen, das die Niederlage ankündigte und sie sogar
rühmte, indes täglich die Zeitungen schmetterten ›Siegen oder Untergehen!‹
Ein Wunder mußte ich es schon nennen, wenn das Buch gedruckt werden
durfte, aber selbst in dem schlimmsten Falle, daß dies nicht gelingen sollte,
hatte es wenigstens mir selbst geholfen über die schwerste Zeit. Ich hatte alles
im dichterischen Dialog gesagt, was ich im Gespräch mit den Menschen um
mich verschweigen mußte. Ich hatte die Last, die mir auf der Seele lag,
weggeschleudert und war mir selbst zurückgegeben; in eben der Stunde, da
alles in mir ein ›Nein‹ war gegen die Zeit, hatte ich das ›Ja‹ zu mir selbst
gefunden.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286