Seite - 194 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sprang vom Zuge, und da warteten schon – erste Überraschung – am Buffet
alle die Dinge, von denen man schon vergessen, daß sie vordem zu den
Selbstverständlichkeiten des Lebens gehört hatten; da waren goldene füllige
Orangen, Bananen, da lag Schokolade und Schinken offen, die man bei uns
nur durch Hintertüren schleichend erhielt, da war Brot und Fleisch ohne
Brotkarte, ohne Fleischkarte – und wirklich wie hungrige Tiere stürzten sich
die Reisenden auf diese billige Pracht. Da war ein Telegraphenamt, ein
Postamt, von dem man unzensiert schreiben und drahten konnte in alle
Windrichtungen der Welt. Da lagen die französischen, die italienischen, die
englischen Zeitungen, und man konnte sie straflos kaufen, auffalten und
lesen. Das Verbotene war hier, fünf Minuten weiter, erlaubt und drüben das
Erlaubte verboten. All der Widersinn europäischer Kriege wurde mir durch
das nahe Nebeneinander im Raum geradezu sinnlich offenbar; da drüben in
dem kleinen Grenzstädtchen, dessen Schildertafeln man mit freiem Auge
lesen konnte, wurden aus jedem Häuschen, jeder Hütte die Männer
herausgeholt und nach der Ukraine und nach Albanien verladen, um dort zu
morden und sich morden zu lassen – hier fünf Minuten weit saßen die Männer
gleichen Alters geruhigt mit ihren Frauen vor den efeuumhangenen Türen und
rauchten ihre Pfeifen: ich fragte mich unwillkürlich, ob nicht auch die Fische
in diesem Grenzflüßchen auf der rechten Seite kriegführende Tiere wären und
die zur linken neutral. In der einen Sekunde, da ich die Grenze überschritten
hatte, dachte ich schon anders, freier, erregter, unserviler, und ich erprobte
gleich am nächsten Tage, wie nicht nur unsere seelische Disposition, sondern
auch der körperliche Organismus innerhalb der Kriegswelt herabgemindert
wurde; als ich, bei Verwandten eingeladen, ahnungslos nach dem Essen eine
Tasse schwarzen Kaffee trank und dazu eine Havannazigarre rauchte, wurde
mir plötzlich schwindlig, und ich bekam heftiges Herzklopfen. Mein Körper,
meine Nerven erwiesen sich nach vielen Monaten der Ersatzstoffe nicht mehr
aufnahmefähig für wirklichen Kaffee und wirklichen Tabak; auch der Körper
mußte sich nach dem Unnatürlichen des Krieges wieder umstellen auf das
Natürliche des Friedens.
Dieser Taumel, diese wohlige Schwindligkeit übertrug sich auch ins
Geistige. Jeder Baum schien mir schöner, jeder Berg freier, jede Landschaft
beglückender, denn innerhalb eines Kriegslandes wirkt dem verdüsterten
Blicke der selig atmende Friede einer Wiese wie freche Gleichgültigkeit der
Natur, jeder purpurne Sonnenuntergang erinnert an das vergossene Blut; hier
im natürlichen Zustand des Friedens war die edle Abseitigkeit der Natur
wieder natürlich geworden, und ich liebte die Schweiz, wie ich sie nie zuvor
geliebt. Immer war ich gerne in dies bei kleinem Umfang großartige und in
seiner Vielfalt unerschöpfliche Land gekommen. Nie aber hatte ich den Sinn
seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286