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Beisammenseins der Nationen im selben Räume ohne Feindlichkeit, diese
weiseste Maxime durch wechselseitige Achtung und eine ehrlich durchlebte
Demokratie sprachliche und volkliche Unterschiede zur Brüderlichkeit zu
erheben – welch ein Beispiel dies für unser ganzes verwirrtes Europa!
Refugium aller Verfolgten, seit Jahrhunderten Heimstatt des Friedens und der
Freiheit, gastlich jeder Gesinnung bei treuester Bewahrung seiner besonderen
Eigenart – wie wichtig erwies sich die Existenz dieses einzig übernationalen
Staates für unsere Welt! Zu Recht schien mir dies Land mit Schönheit
gesegnet, mit Reichtum bedacht. Nein, hier war man nicht fremd; ein freier,
unabhängiger Mensch fühlte sich in dieser tragischen Weltstunde hier mehr zu
Hause als in seinem eigenen Vaterland. Stundenlang trieb es mich noch nachts
in Zürich durch die Straßen und am Seeufer entlang. Die Lichter schimmerten
Frieden, hier hatten die Menschen noch die gute Gelassenheit des Lebens. Ich
meinte zu spüren, daß hinter den Fenstern nicht schlaflos Frauen in den
Betten lagen und an ihre Söhne dachten, ich sah keine Verwundeten, keine
Verstümmelten, nicht die jungen Soldaten, die morgen, übermorgen in die
Züge verladen werden sollten – man fühlte sich hier berechtigter zu leben,
während es im Kriegslande schon eine Scheu gewesen und fast eine Schuld,
noch unverstümmelt zu sein.
Aber nicht die Besprechungen wegen meiner Aufführung, nicht die
Begegnung mit Schweizer und ausländischen Freunden waren mir das
Dringlichste. Ich wollte vor allem Rolland sehen, den Mann, von dem ich
wußte, daß er mich fester, klarer und tätiger machen konnte, und ich wollte
ihm danken für das, was mir sein Zuspruch, seine Freundschaft in den Tagen
bitterster Seeleneinsamkeit gegeben. Zu ihm mußte mein erster Weg gehen,
und ich fuhr sofort nach Genf. Nun befanden wir ›Feinde‹ uns eigentlich in
einer ziemlich komplizierten Position. Es war selbstverständlich von den
kriegführenden Regierungen nicht gerne gesehen, daß ihre Angehörigen mit
jenen der feindlichen Nationen auf neutralem Gebiete persönlichen Verkehr
pflegten. Aber es war andererseits durch kein Gesetz verboten. Es gab keinen
einzigen Paragraphen, nach dem man für ein Beisammensein bestraft werden
konnte. Verboten und Hochverrat gleichgestellt blieb einzig geschäftlicher
Verkehr, ›Handel mit dem Feinde‹, und um uns auch nicht durch die leiseste
Umgehung dieses Verbots verdächtig zu machen, vermieden wir Freunde
sogar prinzipiell, uns eine Zigarette anzubieten, denn man war zweifelsohne
ununterbrochen von zahllosen Agenten beobachtet. Um jeden Verdacht, als ob
wir uns fürchteten oder schlechten Gewissens wären, zu entgehen, wählten
wir internationalen Freunde die einfachste Methode: die der Offenheit. Wir
schrieben uns nicht unter Deckadressen oder poste restante, wir schlichen uns
nicht etwa nachts heimlich zueinander, sondern gingen zusammen über die
Straßen und saßen offen in den Cafés. So meldete ich mich auch gleich nach
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286