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Kultur. Aber dank der friedlichen Einbettung der Schweiz inmitten der
kämpfenden Staaten war Zürich aus seiner Stille getreten und über Nacht die
wichtigste Stadt Europas geworden, ein Treffpunkt aller geistigen
Bewegungen, freilich auch aller denkbaren Geschäftemacher, Spekulanten,
Spione, Propagandisten, die von der einheimischen Bevölkerung um dieser
plötzlichen Liebe willen mit sehr berechtigtem Mißtrauen betrachtet
wurden … In den Restaurants, den Cafés, in den Straßenbahnen, auf der
Straße hört man alle Sprachen. Überall traf man Bekannte, liebe und unliebe,
und geriet, ob man wollte oder nicht, in einen Sturzbach erregter
Diskussionen. Denn alle diese Menschen, die das Schicksal hergeschwemmt,
waren mit ihrer Existenz an den Ausgang des Krieges gebunden, beauftragt
die einen von ihren Regierungen, verfolgt und verfemt die andern, jeder aber
abgelöst von seiner eigentlichen Existenz und ins Zufällige geschleudert. Da
sie alle kein Heim hatten, suchten sie ununterbrochen kameradschaftliche
Geselligkeit, und weil es jenseits ihrer Macht lag, die militärischen und
politischen Ereignisse zu beeinflussen, diskutierten sie Tag und Nacht in einer
Art geistigen Fiebers, das einen gleichzeitig erregte und ermüdete. Nun
konnte man sich wirklich schwer der Lust entziehen, nachdem man zu Hause
Monate und Jahre mit versiegelter Lippe gelebt, zu sprechen, es drängte
einen, zu schreiben, zu publizieren, seit man zum erstenmal wieder
unzensuriert denken und schreiben durfte; jeder einzelne war zu seinem
Maximum gespannt, und auch mittlere Naturen – wie ich an Guilbeaux zeigte
– interessanter als sie es vordem gewesen und nachher wieder sein sollten.
Von Schriftstellern und Politikern fanden sich solche aller Schattierungen und
Sprachen zusammen; Alfred H. Fried, der Träger des Friedensnobelpreises,
gab hier seine ›Friedenswarte‹ heraus, Fritz von Unruh, vormals preußischer
Offizier, las uns seine Dramen vor, Leonhard Frank schrieb sein aufreizendes
›Der Mensch ist gut‹, Andreas Latzko erregte Sensation mit seinen
›Menschen im Kriege‹ Franz Werfel kam zu einer Vorlesung herüber; ich
begegnete Männern aller Nationen in meinem alten ›Hotel Schwerdt‹, wo
Casanova und Goethe zu ihrer Zeit schon abgestiegen. Ich sah Russen, die
dann in der Revolution auftauchten, und deren richtige Namen ich nie erfuhr,
Italiener, katholische Geistliche, intransigente Sozialisten und solche der
deutschen Kriegspartei; von den Schweizern stand uns der prachtvolle Pastor
Leonhard Ragaz zur Seite und der Dichter Robert Faesi. In der französischen
Buchhandlung traf ich meinen Übersetzer Paul Morisse, im Konzertsaal den
Dirigenten Oscar Fried – alles war da, alles ging vorbei, man hörte alle
Meinungen, die absurdesten und die vernünftigsten, ärgerte und begeisterte
sich. Zeitschriften wurden gegründet, Polemiken ausgetragen, Gegensätze
berührten oder steigerten sich, Gruppen schlossen sich zusammen oder fielen
auseinander; nie mehr ist mir ein vielfarbigeres und leidenschaftlicheres
Gemenge von Meinungen und Menschen in so konzentrierter und gleichsam
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286