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Niederlage als unvermeidlich erscheinen; als der deutsche Kaiser plötzlich
ankündigte, er wolle von nun ab ›demokratisch‹ regieren, wußten wir, was die
Glocke geschlagen hatte. Ich gestehe offen, daß wir Österreicher und
Deutschen trotz der sprachlichen, der seelischen Zugehörigkeit ungeduldig
waren, daß das Unvermeidliche, da es unvermeidlich geworden, sich
beschleunige; und der Tag, da Kaiser Wilhelm, der geschworen, bis zum
letzten Hauch von Mann und Roß zu kämpfen, über die Grenze flüchtete und
Ludendorff, der seinem ›Siegfrieden‹ Millionen Menschen hingeopfert, mit
seiner blauen Brille nach Schweden auswischte, hatte viel Tröstliches für uns.
Denn wir glaubten – und die ganze Welt damals mit uns –, mit diesem Kriege
sei ›der‹ Krieg für alle Zeiten erledigt, die Bestie gezähmt oder gar getötet,
die unsere Welt verheert. Wir glaubten an Wilsons großartiges Programm, das
gänzlich das unsere war, wir sahen im Osten in jenen Tagen, da die russische
Revolution noch mit humanen und idealistischen Ideen Brautnacht feierte,
einen ungewissen Lichtschein kommen. Wir waren töricht, ich weiß es. Aber
wir waren es nicht allein. Wer jene Zeit erlebt, der erinnert sich, daß die
Straßen aller Städte dröhnten vor Jubel, um Wilson als den Heilbringer der
Erde zu empfangen, daß die feindlichen Soldaten sich umarmten und küßten;
nie war so viel Gläubigkeit in Europa wie in den ersten Tagen des Friedens.
Denn jetzt war doch endlich Raum auf Erden für das langversprochene Reich
der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, jetzt oder nie die Stunde für das
gemeinsame Europa, von dem wir geträumt. Die Hölle lag hinter uns, was
konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn.
Und da wir jung waren, sagten wir uns: es wird die unsere sein, die Welt, die
wir erträumt, eine bessere, humanere Welt.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286