Seite - 216 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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nur wer sie frech überschritt, aß sich satt. Wer zu bestechen wußte, kam
vorwärts; wer spekulierte, profitierte. Wer gemäß dem Einkaufspreis
verkaufte, war bestohlen; wer sorgfältig kalkulierte, blieb geprellt. Es gab
kein Maß, keinen Wert innerhalb dieses Zerfließens und Verdampfens des
Geldes; es gab keine Tugend als die einzige: geschickt, geschmeidig,
bedenkenlos zu sein und dem jagenden Roß auf den Rücken zu springen, statt
sich von ihm zertrampeln zu lassen.
Dazu kam, daß während im Wettersturz der Werte die Menschen in
Österreich jedes Maß verloren, manche Ausländer erkannt hatten, daß bei uns
im trüben gut zu fischen war. Das einzige, was während der Inflation – die
drei Jahre anhielt und in immer schnellerem Tempo verlief – innerhalb des
Landes stabilen Wert besaß, war das ausländische Geld. Jeder wollte, da die
österreichischen Kronen wie Gallert unter den Fingern zerflossen, Schweizer
Franken, amerikanische Dollars, und stattliche Massen von Ausländern
nützten die Konjunktur aus, um sich an dem zuckenden Kadaver der
österreichischen Krone anzufressen. Österreich wurde ›entdeckt‹ und erlebte
eine verhängnisvolle ›Fremdensaison‹. Alle Hotels in Wien waren von diesen
Aasgeiern überfüllt; sie kauften alles, von der Zahnbürste bis zum Landgut,
sie räumten die Sammlungen von Privaten und die Antiquitätengeschäfte aus,
ehe die Besitzer in ihrer Bedrängnis merkten, wie sehr sie beraubt und
bestohlen wurden. Kleine Hotelportiers aus der Schweiz, Stenotypistinnen aus
Holland wohnten in den Fürstenappartements der Ringstraßenhotels. So
unglaublich das Faktum erscheint, ich kann es als Zeuge bekräftigen, daß das
berühmte Luxushotel de l’Europe in Salzburg für längere Zeit ganz an
englische Arbeitslose vermietet war, die dank der reichlichen englischen
Arbeitslosenunterstützung hier billiger lebten als in ihren Slums zu Hause.
Was nicht niet- und nagelfest war, verschwand; allmählich verbreitete sich die
Nachricht, wie billig man in Österreich leben und kaufen könne, immer
weiter, aus Schweden, aus Frankreich kamen neue gierige Gäste, man hörte
auf den Straßen der inneren Stadt in Wien mehr italienisch, französisch,
türkisch und rumänisch sprechen als deutsch. Sogar Deutschland, wo die
Inflation zuerst in viel langsamerem Tempo vor sich ging – freilich um die
unsere später um das Millionenfache zu überholen –, nutzte seine Mark gegen
die zerfließende Krone aus. Salzburg als Grenzstadt gab mir beste
Gelegenheit, diese täglichen Raubzüge zu beobachten. Zu Hunderten und
Tausenden kamen aus den nachbarlichen Dörfern und Städten die Bayern
herüber und ergossen sich über die kleine Stadt. Sie ließen sich hier ihre
Anzüge schneidern, ihre Autos reparieren, sie gingen in die Apotheken und
zum Arzt, große Firmen aus München gaben ihre Auslandsbriefe und
Telegramme in Österreich auf, um an der Differenz des Portos zu profitieren.
Schließlich wurde auf Betreiben der deutschen Regierung eine
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286