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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 218 -
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Geldes. Mitten im finanziellen Chaos ging das tägliche Leben beinahe ungestört weiter. Individuell änderte sich sehr viel, Reiche wurden arm, da das Geld in ihren Banken, ihren Staatspapieren zerfloß, Spekulanten wurden reich. Aber das Schwungrad drehte sich, unbekümmert über das Schicksal der einzelnen, hinweg im selben Rhythmus, nichts stand still; der Bäcker buk sein Brot, der Schuster machte seine Stiefel, der Schriftsteller schrieb seine Bücher, der Bauer bestellte das Land, die Züge verkehrten regelmäßig, jeden Morgen lag die Zeitung um die gewohnte Stunde vor der Tür, und gerade die Vergnügungslokale, die Bars, die Theater waren überfüllt. Denn eben durch das Unerwartete, daß das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens – Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Natur – um so höher, und das ganze Volk lebte inmitten der Katastrophe intensiver und gespannter als je; Burschen und Mädel wanderten in die Berge und kamen sonnengebräunt heim, die Tanzlokale musizierten bis spät in die Nacht, neue Fabriken und Geschäfte wurden überall gegründet; ich selbst glaube kaum je intensiver gelebt und gearbeitet zu haben als in jenen Jahren. Was uns vordem wichtig gewesen, wurde noch wichtiger; nie haben wir in Österreich mehr die Kunst geliebt als in jenen Jahren des Chaos, weil wir am Verrat des Geldes fühlten, daß nur das Ewige in uns das wirklich Beständige war. Nie werde ich zum Beispiel eine Opernaufführung vergessen aus jenen Tagen der äußersten Not. Man tastete sich durch halbdunkle Straßen hin, denn die Beleuchtung mußte wegen der Kohlennot eingeschränkt werden, man zahlte seinen Galerieplatz mit einem Bündel Banknoten, das früher für das Jahresabonnement einer Luxusloge ausgereicht hätte. Man saß in seinem Überzieher, denn der Saal war nicht geheizt, und drängte sich gegen den Nachbarn, um sich zu wärmen; und wie trist, wie grau war dieser Saal, der früher geglänzt von Uniformen und kostbaren Toiletten! Niemand wußte, ob es möglich sein würde, nächste Woche die Oper noch fortzuführen, wenn der Schwund des Geldes weiter andauerte und die Kohlensendungen nur eine einzige Woche ausblieben; alles schien doppelt verzweifelt in diesem Haus des Luxus und kaiserlichen Überschwangs. An den Pulten saßen die Philharmoniker, graue Schatten auch sie, in ihren alten, abgetragenen Fräcken, ausgezehrt und von allen Entbehrungen erschöpft, und wie Gespenster wir selbst in dem gespenstisch gewordenen Haus. Aber dann hob der Dirigent den Taktstock, der Vorhang teilte sich und es war herrlich wie nie. Jeder Sänger, jeder Musiker gab sein Letztes, denn sie alle fühlten, vielleicht war es das letzte Mal in diesem geliebten Haus. Und wir horchten und lauschten, aufgetan wie nie zuvor, denn vielleicht war es das letzte Mal. So lebten wir alle, wir Tausende, wir Hunderttausende; jeder gab seine äußerste Kraft in diesen Wochen und Monaten und Jahren, eine Spanne vor 218
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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