Seite - 220 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 220 -
Text der Seite - 220 -
geflüchtet war, oder ihre Heerführer, ihre Politiker oder die Dichter, die
unablässig Krieg auf Sieg und Not auf Tod gereimt? Grauenhaft wurde erst
jetzt, da der Pulverdampf sich über dem Lande verzog, die Verwüstung
sichtbar, die der Krieg hervorgerufen. Wie sollte ein Sittengebot noch als
heilig gelten, das vier Jahre lang Mord und Raub unter dem Namen
Heldentum und Requisition verstattet? Wie sollte ein Volk den
Versprechungen des Staates glauben, der alle ihm unbequemen
Verpflichtungen gegenüber dem Bürger annulliert? Und nun hatten dieselben
Menschen, derselbe Klüngel der Alten, der sogenannten Erfahrenen, die
Torheit des Krieges noch durch das Stümperwerk ihres Friedens übertroffen.
Alle wissen heute – und wir Wenigen wußten es schon damals –, daß dieser
Friede eine, wenn nicht diegrößte moralische Möglichkeit der Geschichte
gewesen war. Wilson hatte sie erkannt. Er hatte in einer weitreichenden
Vision den Plan vorgezeichnet zu einer wahrhaften und dauernden
Weltverständigung. Aber die alten Generäle, die alten Staatsmänner, die alten
Interessen hatten das große Konzept zerschnitten und zerstückelt zu wertlosen
Fetzen Papier. Das große, das heilige Versprechen, das man den Millionen
gegeben, dieser Krieg würde der letzte sein, dieses Versprechen, das allein
noch aus schon halb enttäuschten, halb erschöpften und verzweifelten
Soldaten die letzte Kraft geholt, wurde zynisch den Interessen der
Munitionsfabrikanten und der Spielwut der Politiker aufgeopfert, die ihre alte,
verhängnisvolle Taktik der Geheimverträge und Verhandlungen hinter
geschlossenen Türen vor Wilsons weiser und humaner Forderung
triumphierend zu retten wußten. So weit sie wache Augen hatte, sah die Welt,
daß sie betrogen worden war. Betrogen die Mütter, die ihre Kinder geopfert,
betrogen die Soldaten, die als Bettler heimkehrten, betrogen all jene, die
patriotisch Kriegsanleihe gezeichnet, betrogen jeder, der einer Versprechung
des Staates Glauben geschenkt, betrogen wir alle, die geträumt von einer
neuen und besser geordneten Welt und nun sahen, daß das alte Spiel, in dem
unsere Existenz, unser Glück, unsere Zeit, unsere Habe den Einsatz stellten,
von ebendenselben oder von neuen Hasardeuren wieder begonnen wurde.
Was Wunder, wenn da eine ganz junge Generation erbittert und
verachtungsvoll auf ihre Väter blickte, die sich erst den Sieg hatten nehmen
lassen und dann den Frieden? Die alles schlecht gemacht, die nichts
vorausgesehen und in allem falsch gerechnet? War es nicht verständlich,
wenn jedwede Form des Respekts verschwand bei dem neuen Geschlecht?
Eine ganze neue Jugend glaubte nicht mehr den Eltern, den Politikern, den
Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit
mißtrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die
Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder
Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die
220
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286