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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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leidenschaftlichsten Schriftsteller Italiens und von außerordentlichem Einfluß auf die Jugend, hatte er, obwohl Übersetzer von ›Werthers Leiden‹ und Fanatiker der deutschen Philosophie, im Kriege scharf Stellung genommen gegen Deutschland und Österreich und Schulter an Schulter mit Mussolini (mit dem er sich später entzweite) zum Kriege gedrängt. Es war während des ganzen Krieges ein sonderbarer Gedanke für mich gewesen, einen alten Kameraden auf der Gegenseite als Interventionisten zu wissen; um so mehr empfand ich Verlangen, einen solchen ›Feind‹ zu sehen. Immerhin wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, mich abweisen zu lassen. So hinterließ ich meine Karte für ihn und versah sie mit meiner Hoteladresse. Aber noch war ich die Treppe nicht hinunter, so stürzte schon jemand mir nach, das scharflebendige Gesicht leuchtend vor Freude – Borgese; nach fünf Minuten sprachen wir so herzlich wie immer und vielleicht noch herzlicher. Auch er hatte gelernt aus diesem Krieg, und von dem einen und dem andern Ufer waren wir einander nähergekommen als je. So ging es überall. In Florenz sprang auf der Straße mein alter Freund Albert Stringa, ein Maler, auf mich zu und umarmte mich so heftig und unvermittelt, daß meine Frau, die mit mir war und ihn nicht kannte, glaubte, dieser fremde bärtige Mann plane ein Attentat auf mich. Alles war wie früher, nein, noch herzlicher. Ich atmete auf: der Krieg war begraben. Der Krieg war vorüber. Aber er war nicht vorüber. Wir wußten es nur nicht. Wir täuschten uns alle in unserer Gutgläubigkeit und verwechselten unsere persönliche Bereitschaft mit jener der Welt. Aber wir brauchen uns dieses Irrtums nicht zu schämen, denn nicht minder als wir haben sich die Politiker, die Ökonomen, die Bankleute getäuscht, die gleichfalls in diesen Jahren eine trügerische Konjunktur für Gesundung nahmen und Ermüdung für Befriedigung. Der Kampf hatte sich in Wirklichkeit nur verschoben, vom Nationalen ins Soziale; und gleich in den ersten Tagen war ich Zeuge einer Szene, die ich erst später in ihrer weittragenden Bedeutung verstand. Wir wußten in Österreich damals nicht mehr von der italienischen Politik, als daß mit der Enttäuschung nach dem Kriege scharfe sozialistische und sogar bolschewistische Tendenzen eingerissen waren. An jeder Mauer konnte man in ungelenken Schriftzügen mit Kohle oder Kreide ein ›Viva Lenin‹ hingeschrieben sehen. Ferner hatte man gehört, daß einer der sozialistischen Führer namens Mussolini sich während des Krieges von der Partei losgesagt und irgendeine Gegengruppe organisiert hatte. Aber man nahm derlei Mitteilungen nur mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Was hatte solch ein Grüppchen zu bedeuten? In jedem Land gab es damals solche Klüngel; im Baltikum marschierten Freischärler herum, im Rheinland, in Bayern bildeten sich separatistische Gruppen, überall gab es Demonstrationen und Putsche, die aber fast immer niedergeschlagen wurden. 225
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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