Seite - 225 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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leidenschaftlichsten Schriftsteller Italiens und von außerordentlichem Einfluß
auf die Jugend, hatte er, obwohl Übersetzer von ›Werthers Leiden‹ und
Fanatiker der deutschen Philosophie, im Kriege scharf Stellung genommen
gegen Deutschland und Österreich und Schulter an Schulter mit Mussolini
(mit dem er sich später entzweite) zum Kriege gedrängt. Es war während des
ganzen Krieges ein sonderbarer Gedanke für mich gewesen, einen alten
Kameraden auf der Gegenseite als Interventionisten zu wissen; um so mehr
empfand ich Verlangen, einen solchen ›Feind‹ zu sehen. Immerhin wollte ich
es nicht darauf ankommen lassen, mich abweisen zu lassen. So hinterließ ich
meine Karte für ihn und versah sie mit meiner Hoteladresse. Aber noch war
ich die Treppe nicht hinunter, so stürzte schon jemand mir nach, das
scharflebendige Gesicht leuchtend vor Freude – Borgese; nach fünf Minuten
sprachen wir so herzlich wie immer und vielleicht noch herzlicher. Auch er
hatte gelernt aus diesem Krieg, und von dem einen und dem andern Ufer
waren wir einander nähergekommen als je.
So ging es überall. In Florenz sprang auf der Straße mein alter Freund
Albert Stringa, ein Maler, auf mich zu und umarmte mich so heftig und
unvermittelt, daß meine Frau, die mit mir war und ihn nicht kannte, glaubte,
dieser fremde bärtige Mann plane ein Attentat auf mich. Alles war wie früher,
nein, noch herzlicher. Ich atmete auf: der Krieg war begraben. Der Krieg war
vorüber.
Aber er war nicht vorüber. Wir wußten es nur nicht. Wir täuschten uns alle
in unserer Gutgläubigkeit und verwechselten unsere persönliche Bereitschaft
mit jener der Welt. Aber wir brauchen uns dieses Irrtums nicht zu schämen,
denn nicht minder als wir haben sich die Politiker, die Ökonomen, die
Bankleute getäuscht, die gleichfalls in diesen Jahren eine trügerische
Konjunktur für Gesundung nahmen und Ermüdung für Befriedigung. Der
Kampf hatte sich in Wirklichkeit nur verschoben, vom Nationalen ins Soziale;
und gleich in den ersten Tagen war ich Zeuge einer Szene, die ich erst später
in ihrer weittragenden Bedeutung verstand. Wir wußten in Österreich damals
nicht mehr von der italienischen Politik, als daß mit der Enttäuschung nach
dem Kriege scharfe sozialistische und sogar bolschewistische Tendenzen
eingerissen waren. An jeder Mauer konnte man in ungelenken Schriftzügen
mit Kohle oder Kreide ein ›Viva Lenin‹ hingeschrieben sehen. Ferner hatte
man gehört, daß einer der sozialistischen Führer namens Mussolini sich
während des Krieges von der Partei losgesagt und irgendeine Gegengruppe
organisiert hatte. Aber man nahm derlei Mitteilungen nur mit Gleichgültigkeit
zur Kenntnis. Was hatte solch ein Grüppchen zu bedeuten? In jedem Land gab
es damals solche Klüngel; im Baltikum marschierten Freischärler herum, im
Rheinland, in Bayern bildeten sich separatistische Gruppen, überall gab es
Demonstrationen und Putsche, die aber fast immer niedergeschlagen wurden.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286