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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 226 -
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Und niemand dachte daran, diese ›Faschisten‹, die statt der garibaldischen roten Hemden sich schwarze beigelegt hatten, als einen wesentlichen Faktor der künftigen europäischen Entwicklung anzusehen. Aber in Venedig bekam das bloße Wort plötzlich für mich einen sinnlichen Inhalt. Ich kam von Mailand nachmittags in die geliebte Lagunenstadt. Kein Träger war zur Stelle, keine Gondel, müßig standen Arbeiter und Bahnbeamte herum, die Hände demonstrativ in den Taschen. Da ich zwei ziemlich schwere Koffer mit mir schleppte, blickte ich hilfesuchend um mich und fragte einen älteren Herrn, wo hier Träger zu finden seien. »Sie sind an einem schlechten Tag gekommen«, antwortete er bedauernd. »Aber wir haben jetzt oft solche Tage. Es ist wieder einmal Generalstreik.« Ich wußte nicht, warum Streik war, und fragte nicht weiter danach. Wir waren derlei von Österreich zu gewohnt, wo die Sozialdemokraten sehr zu ihrem Verhängnis allzuoft dieses ihr schärfstes Mittel einsetzten, ohne es dann faktisch auszuwerten. Ich schleppte also mühselig meine Koffer weiter, bis ich endlich aus einem Seitenkanal einen Gondoliere mir hastig und verstohlen zuwinken sah, der dann mich und die beiden Koffer aufnahm. In einer halben Stunde waren wir, an einigen gegen den Streikbrecher geballten Fäusten vorbeisteuernd, im Hotel. Mit der Selbstverständlichkeit einer alten Gewohnheit ging ich sofort auf den Markusplatz. Er sah auffallend verlassen aus. Die Läden der meisten Geschäfte waren herabgelassen, niemand saß in den Cafés, nur eine große Menge von Arbeitern stand in einzelnen Gruppen unter den Arkaden wie Menschen, die auf irgend etwas Besonderes warten. Ich wartete mit ihnen. Und dann kam es plötzlich. Aus einer Seitengasse marschierte oder eigentlich lief in hastigem Gleichschritt eine Gruppe junger Leute, gut geordnet, die in geübtem Takt ein Lied sangen, dessen Text ich nicht kannte – später wußte ich, daß es die ›Giovinezza‹ war. Und schon waren sie, Stöcke schwingend, in ihrem Laufschritt vorbei, ehe die hundertfach überlegene Masse Zeit gehabt hatte, sich auf den Gegner zu stürzen. Der verwegene und wirklich mutige Durchmarsch dieser kleinen organisierten Gruppe war so rasch erfolgt, daß sich die andern der Provokation erst bewußt wurden, als sie ihrer Gegner nicht mehr habhaft werden konnten. Ärgerlich scharten sie sich jetzt zusammen und ballten die Fäuste, aber es war zu spät. Der kleine Sturmtrupp war nicht mehr einzuholen. Immer haben optische Eindrücke etwas Überzeugendes. Zum erstenmal wußte ich jetzt, daß dieser sagenhafte, mir kaum bekannte Faschismus etwas Reales sei, etwas sehr gut Geleitetes, und daß er entschlossene, kühne junge Menschen für sich fanatisierte. Ich konnte meinen älteren Freunden in Florenz und Rom seitdem nicht mehr beipflichten, die mit einem verächtlichen Achselzucken diese jungen Menschen als eine ›gemietete Bande‹ abtaten und ihren ›Fra Diavolo‹ verspotteten. Aus Neugier kaufte ich mir einige Nummern 226
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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