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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Tatsächlich war seine geistige Konzentrationsfähigkeit, seine stupende Umschalteleichtigkeit von einer Materie zur andern derart vollkommen, daß er jederzeit im Auto wie in der Bahn ebenso präzis und profund sprechen konnte wie in seinem Zimmer. Ich wollte die Gelegenheit nicht versäumen, und ich glaube, es tat ihm auch wohl, sich mit jemandem aussprechen zu können, der politisch unbeteiligt und ihm persönlich seit Jahren freundschaftlich verbunden war. Es wurde ein langes Gespräch, und ich kann bezeugen, daß Rathenau, der persönlich von Eitelkeit keineswegs frei war, durchaus nicht leichten Herzens und noch weniger gierig und ungeduldig die Stellung eines deutschen Außenministers übernommen hatte. Er wußte im voraus, daß die Aufgabe vorläufig noch eine unlösbare war und daß er im besten Falle einen Viertelerfolg zurückbringen konnte, ein paar belanglose Konzessionen, daß aber ein wirklicher Frieden, ein generöses Entgegenkommen, noch nicht zu erhoffen war. »In zehn Jahren vielleicht«, sagte er mir, »vorausgesetzt, daß es allen schlecht geht und nicht nur uns allein. Erst muß die alte Generation aus der Diplomatie weggeräumt sein und die Generäle nur noch als stumme Denkmäler auf den öffentlichen Plätzen herumstehen.« Er war sich vollkommen bewußt der doppelten Verantwortlichkeit durch die Belastung, daß er Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein Mann mit so viel Skepsis und so voll innerer Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr. Seit der Ermordung Erzbergers, der die unangenehme Pflicht des Waffenstillstands übernommen, vor der sich Ludendorff vorsichtig ins Ausland gedrückt, durfte er nicht zweifeln, daß auch ihn als Vorkämpfer der Verständigung ein ähnliches Schicksal erwartete. Aber unverheiratet, kinderlos und im Grunde tief vereinsamt, wie er war, meinte er die Gefahr nicht scheuen zu müssen; auch ich hatte nicht den Mut, ihn zu persönlicher Vorsicht zu mahnen. Daß Rathenau seine Sache in Rapallo so ausgezeichnet gemacht hat, wie es unter den herrschenden Umständen damals möglich war, ist heute ein historisches Faktum. Seine blendende Begabung, rasch jeden günstigen Augenblick zu fassen, seine Weltmännischkeit und sein persönliches Prestige haben sich nie glänzender bewährt. Aber schon waren die Gruppen stark im Lande, die wußten, daß sie einzig Zulauf finden würden, wenn sie dem besiegten Volke immer wieder versicherten, daß es gar nicht besiegt und daß jedes Verhandeln und Nachgeben Verrat an der Nation sei. Schon waren die – stark homosexuell durchsetzten – Geheimbünde mächtiger, als die damaligen Leiter der Republik vermuteten, die in ihrer Vorstellung von Freiheit alle gewähren ließen, welche die Freiheit in Deutschland für immer beseitigen wollten. In der Stadt nahm ich dann vor dem Ministerium von ihm Abschied, ohne 228
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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