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Bettler herumschlichen. Austräger gründeten Bankhäuser und spekulierten in
allen Valuten. Über ihnen allen erhob sich gigantisch die Gestalt des
Großverdieners Stinnes. Er kaufte, indem er unter Ausnutzung des
Marktsturzes seinen Kredit erweiterte, was nur zu kaufen war, Kohlengruben
und Schiffe, Fabriken und Aktienpakete, Schlösser und Landgüter, und alles
eigentlich mit Null, weil jeder Betrag, jede Schuld zu Null wurde. Bald war
ein Viertel Deutschlands in seiner Hand, und perverserweise jubelte ihm das
Volk, das sich in Deutschland immer am sichtbaren Erfolg berauscht, wie
einem Genius zu. Die Arbeitslosen standen zu Tausenden herum und ballten
die Fäuste gegen die Schieber und Ausländer in den Luxusautomobilen, die
einen ganzen Straßenzug aufkauften wie eine Zündholzschachtel; jeder, der
nur lesen und schreiben konnte, handelte und spekulierte, verdiente und hatte
dabei das geheime Gefühl, daß sie alle sich betrogen und betrogen wurden
von einer verborgenen Hand, die dieses Chaos sehr wissentlich inszenierte,
um den Staat von seinen Schulden und Verpflichtungen zu befreien. Ich
glaube Geschichte ziemlich gründlich zu kennen, aber meines Wissens hat sie
nie eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen produziert.
Alle Werte waren verändert und nicht nur im Materiellen; die Verordnungen
des Staates wurden verlacht, keine Sitte, keine Moral respektiert, Berlin
verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und
Schnapsbuden schossen auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen,
erwies sich nur als mildes und schüchternes Vorspiel dieses Hexensabbats,
denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die
Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen
mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte
sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre
und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren.
Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner
Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen
in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten.
Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer
Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. Die jungen Mädchen rühmten sich
stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit
verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner Schule als Schmach
gegolten, jede wollte ihre Abenteuer berichten können und je exotischer,
desto besser. Aber das Wichtigste an dieser pathetischen Erotik war ihre
grauenhafte Unechtheit. Im Grunde war die deutsche Orgiastik, die mit der
Inflation ausbrach, nur fiebriges Nachäffertum; man sah diesen jungen
Mädchen aus den guten bürgerlichen Familien an, daß sie lieber einen
einfachen Scheitel getragen hätten als den glattgestrichenen Männerkopf,
lieber Apfelkuchen mit Schlagsahne gelöffelt, als die scharfen Schnäpse
getrunken; überall war unverkennbar, daß dem ganzen Volke diese
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286