Seite - 235 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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herauszugeben, dann könnten alle diese Werke, die zweifellos überzeitlichen
Gehalt haben, erneut lebendig in unserer Zeit wirken.
Diese Abneigung gegen alles Weitschweifige und Langwierige mußte sich
notwendigerweise von der Lektüre fremder Werke auf das Schreiben der
eigenen übertragen und mich zu einer besonderen Wachsamkeit erziehen. An
und für sich produziere ich leicht und fließend, in der ersten Fassung eines
Buches lasse ich die Feder locker laufen und fabuliere weg, was mir am
Herzen liegt. Ebenso verwerte ich bei einem biographischen Werke zunächst
alle nur denkbaren dokumentarischen Einzelheiten, die mir zu Gebote stehen;
bei einer Biographie wie ›Marie Antoinette‹ habe ich tatsächlich jede einzelne
Rechnung nachgeprüft, um ihren persönlichen Verbrauch festzustellen, alle
zeitgenössischen Zeitungen und Pamphlete studiert, alle Prozeßakten bis auf
die letzte Zeile durchgeackert. Aber im gedruckten Buch ist von all dem keine
Zeile mehr zu finden, denn kaum daß die erste ungefähre Fassung eines
Buches ins Reine geschrieben ist, beginnt für mich die eigentliche Arbeit, die
des Kondensierens und Komponierens, eine Arbeit, an der ich mir von
Version zu Version nicht genug tun kann. Es ist ein unablässiges Ballast-über-
Bord-werfen, ein ständiges Verdichten und Klären der inneren Architektur;
während die meisten andern sich nicht entschließen können, etwas zu
verschweigen, was sie wissen, und mit einer gewissen Verliebtheit in jede
gelungene Zeile sich weiter und tiefer zeigen wollen, als sie eigentlich sind,
ist es mein Ehrgeiz, immer mehr zu wissen, als nach außen hin sichtbar wird.
Dieser Prozeß der Kondensierung und damit Dramatisierung wiederholt
sich dann noch einmal, zweimal und dreimal bei den gedruckten Fahnen; es
wird schließlich eine Art lustvoller Jagd, noch einen Satz oder auch nur ein
Wort zu finden, dessen Fehlen die Präzision nicht vermindern und gleichzeitig
das Tempo steigern könnte. Innerhalb meiner Arbeit ist mir die des
Weglassens eigentlich die vergnüglichste. Und ich erinnere mich, daß einmal,
als ich besonders zufrieden von meiner Arbeit aufstand und meine Frau mir
sagte, mir scheine heute etwas Außergewöhnliches geglückt zu sein, ich ihr
stolz antwortete: »Ja, es ist mir gelungen, noch einen ganzen Absatz
wegzustreichen und dadurch einen rapideren Übergang zu finden.« Wenn also
manchmal an meinen Büchern das mitreißende Tempo gerühmt wird, so
entstammt diese Eigenschaft keineswegs einer natürlichen Hitze oder inneren
Erregtheit, sondern einzig jener systematischen Methode der ständigen
Ausschaltung aller überflüssigen Pausen und Nebengeräusche, und wenn ich
mir irgendeiner Art der Kunst bewußt bin, so ist es die Kunst des
Verzichtenkönnens, denn ich klage nicht, wenn von tausend geschriebenen
Seiten achthundert in den Papierkorb wandern und nur zweihundert als die
durchgesiebte Essenz zurückbleiben. Wenn irgend etwas, so hat mir die
strenge Disziplin, mich lieber auf engere Formen, aber immer auf das
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286