Seite - 241 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Jugend, wo niemand einen erwartete und durch die Abgeschiedenheit alles
geheimnisvoller erschien; so wollte ich von der alten Art des Wanderns auch
nicht lassen. Wenn ich nach Paris kam, hütete ich mich, selbst die besten
Freunde wie Roger Martin du Gard, Jules Romains, Duhamel, Masereel
gleich am Tage der Ankunft zu verständigen. Erst wollte ich wieder, wie einst
als Student, ungehemmt und unerwartet durch die Straßen streifen. Ich suchte
die alten Cafés auf und die kleinen Wirtshäuser, ich spielte mich in meine
Jugend zurück; ebenso ging ich, wenn ich arbeiten wollte, an die absurdesten
Orte, in kleine Provinzorte wie Boulogne oder Tirano oder Dijon; es war
wundervoll, unbekannt zu sein, in den kleinen Hotels zu wohnen nach den
widerlich luxuriösen, bald vor, bald zurück zu treten, Licht und Schatten nach
eigener Willkür zu verteilen. Und so viel Hitler mir später genommen, das
gute Bewußtsein, doch noch ein Jahrzehnt nach eigenem Willen und mit
innerster Freiheit europäisch gelebt zu haben, dies allein vermochte selbst er
mir weder zu konfiszieren noch zu verstören.
Von jenen Reisen war eine für mich besonders erregend und belehrend:
eine Reise in das neue Rußland. 1914, knapp vor dem Kriege, als ich an
meinem Buch über Dostojewskij arbeitete, hatte ich diese Reise schon
vorbereitet; damals war die blutige Sense des Krieges dazwischengefahren,
und seitdem hielt mich ein Bedenken zurück. Rußland war durch das
bolschewistische Experiment für alle geistigen Menschen das faszinierendste
Land des Nachkrieges geworden, ohne genaue Kenntnis gleich enthusiastisch
bewundert wie fanatisch befeindet. Niemand wußte zuverlässig – dank der
Propaganda und gleich rabiaten Gegenpropaganda –, was dort geschah. Aber
man wußte, daß dort etwas ganz Neues versucht wurde, etwas, das im Guten
oder im Bösen bestimmend sein könnte für die zukünftige Form unserer Welt.
Shaw, Wells, Barbusse, Istrati, Gide und viele andere waren hinübergefahren,
die einen als Enthusiasten, die anderen als Enttäuschte zurückkehrend, und
ich wäre kein geistig verbundener, dem Neuen zugewandter Mensch gewesen,
hätte es mich nicht gleichfalls verlockt, aus eigenem Augenschein mir ein
Bild zu formen. Meine Bücher waren dort ungemein verbreitet, nicht nur die
Gesamtausgabe mit Maxim Gorkijs Einleitung, sondern auch kleine billige
Ausgaben für ein paar Kopeken, die bis in die breitesten Massen drangen; ich
konnte also guten Empfanges gewiß sein. Aber was mich hinderte, war,
daß jede Reise nach Rußland damals schon im vorhinein eine Art
Parteinahme bedeutete und zu öffentlichem Bekenntnis oder öffentlicher
Verneinung zwang, indes ich, der das Politische und Dogmatische im tiefsten
verabscheute, nicht nach ein paar Wochen Überblicks über ein unabsehbares
Land und ein noch ungelöstes Problem mir ein Urteil aufzwingen lassen
wollte. So konnte ich mich trotz meiner brennenden Neugier nie entschließen,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286