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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Jugend, wo niemand einen erwartete und durch die Abgeschiedenheit alles geheimnisvoller erschien; so wollte ich von der alten Art des Wanderns auch nicht lassen. Wenn ich nach Paris kam, hütete ich mich, selbst die besten Freunde wie Roger Martin du Gard, Jules Romains, Duhamel, Masereel gleich am Tage der Ankunft zu verständigen. Erst wollte ich wieder, wie einst als Student, ungehemmt und unerwartet durch die Straßen streifen. Ich suchte die alten Cafés auf und die kleinen Wirtshäuser, ich spielte mich in meine Jugend zurück; ebenso ging ich, wenn ich arbeiten wollte, an die absurdesten Orte, in kleine Provinzorte wie Boulogne oder Tirano oder Dijon; es war wundervoll, unbekannt zu sein, in den kleinen Hotels zu wohnen nach den widerlich luxuriösen, bald vor, bald zurück zu treten, Licht und Schatten nach eigener Willkür zu verteilen. Und so viel Hitler mir später genommen, das gute Bewußtsein, doch noch ein Jahrzehnt nach eigenem Willen und mit innerster Freiheit europäisch gelebt zu haben, dies allein vermochte selbst er mir weder zu konfiszieren noch zu verstören. Von jenen Reisen war eine für mich besonders erregend und belehrend: eine Reise in das neue Rußland. 1914, knapp vor dem Kriege, als ich an meinem Buch über Dostojewskij arbeitete, hatte ich diese Reise schon vorbereitet; damals war die blutige Sense des Krieges dazwischengefahren, und seitdem hielt mich ein Bedenken zurück. Rußland war durch das bolschewistische Experiment für alle geistigen Menschen das faszinierendste Land des Nachkrieges geworden, ohne genaue Kenntnis gleich enthusiastisch bewundert wie fanatisch befeindet. Niemand wußte zuverlässig – dank der Propaganda und gleich rabiaten Gegenpropaganda –, was dort geschah. Aber man wußte, daß dort etwas ganz Neues versucht wurde, etwas, das im Guten oder im Bösen bestimmend sein könnte für die zukünftige Form unserer Welt. Shaw, Wells, Barbusse, Istrati, Gide und viele andere waren hinübergefahren, die einen als Enthusiasten, die anderen als Enttäuschte zurückkehrend, und ich wäre kein geistig verbundener, dem Neuen zugewandter Mensch gewesen, hätte es mich nicht gleichfalls verlockt, aus eigenem Augenschein mir ein Bild zu formen. Meine Bücher waren dort ungemein verbreitet, nicht nur die Gesamtausgabe mit Maxim Gorkijs Einleitung, sondern auch kleine billige Ausgaben für ein paar Kopeken, die bis in die breitesten Massen drangen; ich konnte also guten Empfanges gewiß sein. Aber was mich hinderte, war, daß jede Reise nach Rußland damals schon im vorhinein eine Art Parteinahme bedeutete und zu öffentlichem Bekenntnis oder öffentlicher Verneinung zwang, indes ich, der das Politische und Dogmatische im tiefsten verabscheute, nicht nach ein paar Wochen Überblicks über ein unabsehbares Land und ein noch ungelöstes Problem mir ein Urteil aufzwingen lassen wollte. So konnte ich mich trotz meiner brennenden Neugier nie entschließen, 241
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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