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nach Sowjetrußland zu reisen.
Da gelangte im Frühsommer 1928 eine Einladung an mich, als Delegierter
der österreichischen Schriftsteller an der Feier des hundertsten Geburtstages
Leo Tolstois in Moskau teilzunehmen, um dort am Festabend das Wort zu
seinen Ehren zu ergreifen. Einem solchen Anlaß auszuweichen, hatte ich
keinen Grund, denn durch den überparteilichen Gegenstand war mein Besuch
dem Politischen entrückt. Tolstoi als der Apostel der non-violence war nicht
als Bolschewist zu deuten, und über ihn als Dichter zu sprechen stand mir ein
offenkundiges Recht zu, da mein Buch über ihn in vielen Tausenden
Exemplaren verbreitet war; auch schien es mir im europäischen Sinne eine
bedeutsame Demonstration, wenn sich die Schriftsteller aller Länder
vereinten, um dem Größten unter ihnen eine gemeinsame Huldigung
darzubringen. Ich sagte also zu und hatte meinen raschen Entschluß nicht zu
bereuen. Schon die Fahrt durch Polen war ein Erlebnis. Ich sah, wie schnell
unsere Zeit Wunden zu heilen vermag, die sie sich selber schlägt. Dieselben
Städte Galiziens, die ich 1915 in Trümmern gekannt, standen blank und neu;
wieder erkannte ich, daß zehn Jahre, die im Leben eines einzigen Menschen
ein breites Stück seiner Existenz bedeuten, nur ein Wimpernschlag sind im
Leben eines Volkes. In Warschau war keine Spur zu entdecken, daß hier
zweimal, dreimal, viermal siegreiche und besiegte Armeen durchgeflutet. Die
Cafés glänzten mit elegantenFrauen. Die Offiziere, die tailliert und schlank
durch die Straßen promenierten, wirkten eher wie meisterhafte
Hofschauspieler, die Soldaten darstellen. Überall war Rührigkeit, Vertrauen
und ein berechtigter Stolz zu spüren, daß die neue Republik Polen sich so
stark aus dem Schutt der Jahrhunderte erhob. Von Warschau ging es weiter
der russischen Grenze zu. Flacher und sandiger wurde das Land; an jeder
Station stand die ganze Bevölkerung des Dorfes in bunten ländlichen
Trachten, denn nur ein einziger Personenzug am Tage ging damals hinüber in
das verbotene und verschlossene Land, und es war das große Ereignis, die
blanken Wagen eines Expreßzuges zu sehen, der die Welt des Ostens mit der
Welt des Westens verband. Endlich war die Grenzstation erreicht, Njegorolje.
Breit über die Gleise war ein blutrotes Band gespannt mit einer Aufschrift,
deren cyrillische Lettern ich nicht lesen konnte. Man übersetzte sie mir:
›Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!‹ Man hatte, indem man unter diesem
brennend roten Band hindurchschritt, das Imperium des Proletariats, die
Sowjetrepublik, betreten, eine neue Welt. Der Zug freilich, in dem wir fuhren,
war keineswegs proletarisch. Er erwies sich als Schlafwagenzug aus der
zaristischen Zeit, behaglicher und bequemer als die europäischen Luxuszüge,
weil breiter im Format und langsamer im Tempo. Zum erstenmal fuhr ich
durch das russische Land, und sonderbar, es wirkte auf mich nicht fremd.
Alles war mir merkwürdig vertraut, die weite leere Steppe mit ihrer leisen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286