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Melancholie, die kleinen Hütten und Städtchen mit ihren Zwiebeltürmen, die
langbärtigen Männer, halb Bauer, halb Prophet, die mit gutmütigem, breitem
Lachen uns grüßten, die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern und weißen
Kitteln, die Kwas, Eier und Gurken verkauften. Wieso kannte ich das alles?
Nur durch die Meisterschaft der russischen Literatur – durch Tolstoi,
Dostojewskij, Aksakow, Gorkij –, die uns das Leben des ›Volkes‹ so
realistisch großartig geschildert. Ich glaubte, obwohl ich die Sprache nicht
kannte, die Menschen zu verstehen, wenn sie sprachen, diese rührend
einfachen Männer, die da in ihren weiten Blusen breit und behäbig standen,
und die jungen Arbeiter im Zuge, die Schach spielten oder lasen oder
diskutierten, diese unruhige, unbändige Geistigkeit der Jugend, die durch den
Appell an alle Kräfte noch eine besondere Auferstehung erfahren. War es die
Liebe Tolstois und Dostojewskijs zu dem ›Volke‹, die in einem als Erinnerung
wirkte – jedenfalls überkam mich schon im Zuge ein Gefühl der Sympathie
für das Kindliche und Rührende, das Kluge und noch Unbelehrte dieser
Menschen.
Die vierzehn Tage, die ich in Sowjetrußland verbrachte, gingen hin in einer
ständigen Hochspannung. Man sah, man hörte, man bewunderte, man war
abgestoßen, man begeisterte, man ärgerte sich, immer war es ein
Wechselstrom zwischen heiß und kalt. Moskau selbst war schon eine
Zwiespältigkeit – da der herrliche Rote Platz mit seinen Mauern und
Zwiebeltürmen, etwas wunderbar Tatarisches, Orientalisches, Byzantinisches
und darum Urrussisches, und daneben wie eine fremde Horde von
amerikanischen Riesen moderne, übermoderne Hochbauten. Nichts ging
zusammen; in den Kirchen dämmerten noch rauchgeschwärzt die alten Ikonen
und die juwelenschimmernden Altäre der Heiligen, und hundert Schritte
weiter lag in ihrem gläsernen Sarg die Leiche Lenins, eben frisch aufgefärbt
(ich weiß nicht, ob zu unseren Ehren) im schwarzen Anzug. Neben ein paar
blinkenden Automobilen peitschten mit schmatzenden Koseworten bärtige,
schmutzige Istvoshniks ihre mageren Pferdchen, die große Oper, in der wir
sprachen, glühte großartig und zaristisch in pompösem Glanz vor dem
proletarischen Publikum, und in den Vorstädten standen wie schmutzige
verwahrloste Greise die alten morschen Häuser, die sich eines an das andere
lehnen mußten, um nicht umzufallen. Alles war zu lange alt und träge und
verrostet gewesen und wollte jetzt mit einem Ruck modern, ultramodern,
supertechnisch werden. Durch diese Eile wirkte Moskau überfüllt,
überbevölkert und wirr durcheinandergeschüttelt. Überall drängten sich die
Leute, in den Geschäften, vor den Theatern, und überall mußten sie warten,
alles war überorganisiert und funktionierte darum nicht recht; noch genoß die
neue Bürokratie, die ›Ordnung‹ machen sollte, die Lust am Schreiben von
Zetteln und Erlaubnissen und verzögerte alles. Der große Abend, der um 6
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286