Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Biographien
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 244 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 244 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Bild der Seite - 244 -

Bild der Seite - 244 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Text der Seite - 244 -

Uhr beginnen sollte, begann um ½10; als ich todmüde um 3 Uhr nachts die Oper verließ, sprachen die Redner noch unentwegt weiter; bei jedem Empfang, bei jeder Verabredung kam man als Europäer eine Stunde zu früh. Die Zeit zerfloß einem zwischen den Händen und war doch prall voll in jeder Sekunde durch Schauen und Beobachten und Diskutieren; irgendein Fieber war in all dem, und man spürte, daß sie einen unmerklich ergriff, jene geheimnisvolle russische Entzündung der Seele und ihre unbändige Lust, Gefühle und Ideen noch ganz heiß aus sich herauszustoßen. Ohne recht zu wissen warum und wofür, war man leicht exaltiert, es lag an der Atmosphäre, der unruhigen und neuen; vielleicht wuchs einem schon eine russische Seele zu. Vieles war großartig, Leningrad vor allem, diese genial von verwegenen Fürsten konzipierte Stadt mit ihren breiten Prospekten, ihren mächtigen Palästen – und doch auch zugleich noch das bedrückende Petersburg der ›Weißen Nächte‹ und des Raskolnikow. Imposant die Eremitage und unvergeßlicher Anblick darin, wie in Scharen, den Hut ehrfürchtig in der Hand wie ehemals vor ihren Ikonen, die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern mit ihren schweren Schuhen durch die einst kaiserlichen Säle gingen und die Bilder mit dem geheimen Stolz anschauten: das gehört jetzt uns, und wir werden lernen, solche Dinge zu verstehen. Lehrer führten rundbäckige Kinder durch die Säle, Kunstkommissare erklärten den etwas befangen zuhörenden Bauern Rembrandt und Tizian; immer hoben sie, wenn auf Einzelheiten gezeigt wurde, scheu die Augen unter den schweren Lidern. Auch hier wie überall war eine kleine Lächerlichkeit in diesem reinen und redlichen Bemühen, über Nacht das ›Volk‹ vom Analphabetismus gleich zum Verständnis Beethovens und Vermeers emporzureißen, aber diese Bemühung, die höchsten Werte einerseits auf den ersten Anhieb verständlich zu machen, andererseits zu verstehen, war auf beiden Seiten gleich ungeduldig. In den Schulen ließ man Kinder die wildesten, die extravagantesten Dinge malen, auf den Bänken zwölfjähriger Mädchen lagen Hegels Werke und Sorel (den ich damals selbst noch nicht kannte), Kutscher, die noch nicht recht lesen konnten, hielten Bücher in der Hand, nur weil es Bücher waren und Bücher ›Bildung‹ bedeuteten, also Ehre, Pflicht des neuen Proletariats. Ach, wie oft mußten wir lächeln, wenn man uns mittlere Fabriken zeigte und ein Staunen erwartete, als ob wir derlei noch nie in Europa und Amerika gesehen; »elektrisch«, sagte mir ganz stolz ein Arbeiter, auf eine Nähmaschine deutend, und blickte mich erwartungsvoll an, ich sollte in Bewunderung ausbrechen. Weil das Volk all diese technischen Dinge zum erstenmal sah, glaubte es demütig, die Revolution und Väterchen Lenin und Trotzkij hätten dies alles erdacht und erfunden. So lächelte man in Bewunderung und bewunderte, während man sich heimlich amüsierte; welch ein wunderbares 244
zurück zum  Buch Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers"
Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Die Welt von Gestern