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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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begabtes und gütiges großes Kind, dieses Rußland, dachte man immer und fragte sich: wird es wirklich die ungeheure Lektion so rasch lernen, wie es sich vorgenommen? Wird dieser Plan noch weiter sich großartig entfalten oder in der alten russischen Oblomowerei versanden? In der einen Stunde hatte man Zuversicht, in der andern Mißtrauen. Je mehr ich sah, desto weniger wurde ich mir klar. Aber lag das Zwiespältige an mir, lag es nicht vielmehr im russischen Wesen begründet, lag es nicht sogar in Tolstois Seele, den wir zu feiern gekommen waren? Auf der Bahnfahrt nach Jasnaja Poljana sprach ich darüber mit Lunartscharskij. »Was war er eigentlich«, sagte mir Lunartscharskij, »ein Revolutionär oder ein Reaktionär? Hat er es selbst gewußt? Als richtiger Russe wollte er alles zu rasch, nach Tausenden von Jahren die ganze Welt ändern in einem Handumdrehen. – Ganz wie wir«, fügte er lächelnd bei, »und mit einer einzigen Formel genau wie wir. Man sieht uns falsch, uns Russen, wenn man uns geduldig nennt. Wir sind geduldig mit unseren Körpern und sogar mit unserer Seele. Aber mit unserem Denken sind wir ungeduldiger als jedes andere Volk, wir wollen alle Wahrheiten, ›die‹ Wahrheit immer sofort wissen. Und wie hat er sich gequält darum, der alte Mann.« Und wirklich, als ich durch Tolstois Haus in Jasnaja Poljana ging, fühlte ich nur immer dies ›wie hat er sich gequält, der große alte Mann‹. Da war der Schreibtisch, an dem er seine unvergänglichen Werke geschrieben, und er hatte ihn verlassen, um nebenan in einem ärmlichen Gemach Schuhe zu schustern, schlechte Schuhe. Da war die Tür, da war die Treppe, durch die er diesem Haus, durch die er dem Zwiespalt seiner Existenz hatte entflüchten wollen. Da war die Flinte, mit der er im Kriege Feinde getötet, der er doch Feind alles Krieges war. Die ganze Frage seiner Existenz stand stark und sinnlich vor mir in diesem niederen weißen Gutshause, aber wunderbar war dies Tragische dann gelindert durch den Gang an seine letzte Ruhestätte. Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab. Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schößlinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit. 245
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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