Seite - 245 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 245 -
Text der Seite - 245 -
begabtes und gütiges großes Kind, dieses Rußland, dachte man immer und
fragte sich: wird es wirklich die ungeheure Lektion so rasch lernen, wie es
sich vorgenommen? Wird dieser Plan noch weiter sich großartig entfalten
oder in der alten russischen Oblomowerei versanden? In der einen Stunde
hatte man Zuversicht, in der andern Mißtrauen. Je mehr ich sah, desto
weniger wurde ich mir klar.
Aber lag das Zwiespältige an mir, lag es nicht vielmehr im russischen
Wesen begründet, lag es nicht sogar in Tolstois Seele, den wir zu feiern
gekommen waren? Auf der Bahnfahrt nach Jasnaja Poljana sprach ich darüber
mit Lunartscharskij. »Was war er eigentlich«, sagte mir Lunartscharskij, »ein
Revolutionär oder ein Reaktionär? Hat er es selbst gewußt? Als richtiger
Russe wollte er alles zu rasch, nach Tausenden von Jahren die ganze Welt
ändern in einem Handumdrehen. – Ganz wie wir«, fügte er lächelnd bei, »und
mit einer einzigen Formel genau wie wir. Man sieht uns falsch, uns Russen,
wenn man uns geduldig nennt. Wir sind geduldig mit unseren Körpern und
sogar mit unserer Seele. Aber mit unserem Denken sind wir ungeduldiger als
jedes andere Volk, wir wollen alle Wahrheiten, ›die‹ Wahrheit immer sofort
wissen. Und wie hat er sich gequält darum, der alte Mann.« Und wirklich, als
ich durch Tolstois Haus in Jasnaja Poljana ging, fühlte ich nur immer dies
›wie hat er sich gequält, der große alte Mann‹. Da war der Schreibtisch, an
dem er seine unvergänglichen Werke geschrieben, und er hatte ihn verlassen,
um nebenan in einem ärmlichen Gemach Schuhe zu schustern, schlechte
Schuhe. Da war die Tür, da war die Treppe, durch die er diesem Haus, durch
die er dem Zwiespalt seiner Existenz hatte entflüchten wollen. Da war die
Flinte, mit der er im Kriege Feinde getötet, der er doch Feind alles Krieges
war. Die ganze Frage seiner Existenz stand stark und sinnlich vor mir in
diesem niederen weißen Gutshause, aber wunderbar war dies Tragische dann
gelindert durch den Gang an seine letzte Ruhestätte.
Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland
gesehen als Tolstois Grab. Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort,
eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der
nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von
niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese
hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo
Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von
irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort
des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schößlinge eingesetzt.
Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und
äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben
zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das
eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit.
245
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286