Seite - 246 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Ein kleiner rechteckiger Hügel mitten im Wald von Bäumen überblüht – nulla
crux, nulla corona! kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift. Namenlos ist
der große Mann begraben, der wie kein anderer an seinem Namen und seinem
Ruhm litt, genau wie ein zufällig aufgefundener Landstreicher, wie ein
unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte
zu treten; der dünne Bretterzaun ringsherum ist nicht verschlossen. Nichts
behütet die letzte Ruhe des Ruhelosen als die Ehrfurcht der Menschen.
Während sich sonst Neugier um den Prunk eines Grabes drängt, bannt hier die
zwingende Einfachheit jede Schaulust. Wind rauscht wie Gottes Wort über
das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran
vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als daß hier irgendeiner begraben liegt,
irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta
unter dem Marmorbogen des Invalidendomes, nicht Goethes Sarg in der
Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch
ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab
irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und
Wort.
Vierzehn Tage war ich in Rußland gewesen, und noch immer empfand ich
diese innerliche Gespanntheit, diesen Nebel leichter geistiger Berauschtheit.
Was war es eigentlich, das einen so erregte? Bald erkannte ich’s: es waren die
Menschen und die impulsive Herzlichkeit, die von ihnen ausströmte. Alle
vom ersten bis zum letzten waren überzeugt, daß sie an einer ungeheuren
Sache beteiligt waren, welche die ganze Menschheit betraf, alle davon
durchdrungen, daß, was sie an Entbehrungen und Einschränkungen auf sich
nehmen mußten, um einer höheren Mission willen geschah. Das alte
Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europa war umgeschlagen in einen
trunkenen Stolz, vorauszusein, allen voraus. ›Ex Oriente lux‹ von ihnen kam
das Heil; so meinten sie ehrlich und redlich, ›Die‹ Wahrheit, sie hatten sie
erkannt; ihnen war gegeben, zu erfüllen, was die andern nur träumten. Wenn
sie das Nichtigste einem zeigten, so strahlten ihre Augen: »Das haben wir
gemacht.« Und dieses ›Wir‹ ging durch das ganze Volk. Der Kutscher, der
einen fuhr, wies mit der Peitsche auf irgendein neues Haus, ein Lachen
machte die Wangen breit: »Wir haben das gebaut.« Die Tataren, die
Mongolen in den Studentenräumen kamen auf einen zu, zeigten einem voll
Stolz ihre Bücher: »Darwin!« sagte der eine, »Marx!« der andere, genau so
stolz, als hätten sie selbst die Bücher geschrieben. Unablässig drängten sie
sich, einem zu zeigen, zu erklären, sie waren so dankbar, daß jemand
gekommen war, ›ihr‹ Werk zu sehen. Jeder hatte – Jahre vor Stalin! – zu
einem Europäer grenzenloses Vertrauen, mit guten treuen Augen blickten sie
zu einem auf und schüttelten einem kräftig und brüderlich die Hand. Aber
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286