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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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gerade die Geringsten zeigten zugleich, daß sie einen zwar liebten, aber nicht etwa ›Respekt‹ hatten man war doch Bruder, Towarisch, war Kamerad. Auch bei den Schriftstellern war es nicht anders. Wir saßen im Hause zusammen, das vormals Alexander Herzen gehört hatte, nicht nur Europäer und Russen, sondern Tungusen und Georgier und Kaukasier, jeder Sowjetstaat hatte für Tolstoi seinen Delegierten gesandt. Man konnte sich mit den meisten nicht verständigen, aber man verstand sich doch. Manchmal stand einer auf, kam auf einen zu, nannte den Titel eines Buches, das man geschrieben, deutete auf sein Herz um zu sagen »ich liebe es sehr«, dann packte er einen bei der Hand und schüttelte sie, als wollte er einem alle Gelenke vor Liebe zerbrechen. Und noch rührender, jeder brachte ein Geschenk. Es war damals noch eine schlimme Zeit; sie besaßen nichts von Wert, aber jeder holte etwas heran, um einem eine Erinnerung zu geben, einen alten wertlosen Stich, ein Buch, das man nicht lesen konnte, eine bäuerliche Schnitzerei. Ich hatte es freilich leichter, denn ich konnte mit Kostbarkeiten erwidern, die Rußland seit Jahren nicht gesehen –, mit einer Gillette-Rasierklinge, einer Füllfeder, ein paar Bogen guten weißen Briefpapiers, ein Paar weichen ledernen Pantoffeln, so daß ich mit geringstem Gepäck nach Hause kam. Gerade das Stumme und doch Impulsive der Herzlichkeit war überwältigend, und es war eine bei uns unbekannte Breite und Wärme der Wirkung, die man hier sinnlich fühlte denn bei uns erreichte man doch niemals das ›Volk‹ –, eine gefährliche Verführung wurde jedes Beisammensein mit diesen Menschen, der manche der ausländischen Schriftsteller auch tatsächlich bei ihren Besuchen in Rußland erlegen sind. Weil sie sich gefeiert sahen wie nie und von der wirklichen Masse geliebt, glaubten sie das Regime rühmen zu müssen, unter dem man sie so las und liebte; es liegt ja in der menschlichen Natur, Generosität mit Generosität, Überschwang mit Überschwang zu erwidern. Ich muß gestehen, daß ich selbst in manchen Augenblicken in Rußland nahe daran war, hymnisch zu werden und mich an der Begeisterung zu begeistern. Daß ich diesem zauberischen Rausch nicht anheimfiel, danke ich nicht so sehr eigener innerer Kraft als einem Unbekannten, dessen Namen ich nicht weiß und nie erfahren werde. Es war nach einer Festlichkeit bei Studenten. Sie hatten mich umringt, umarmt und mir die Hände geschüttelt. Mir war noch ganz warm von ihrem Enthusiasmus, ich sah voll Freude ihre belebten Gesichter. Vier, fünf begleiteten mich nach Hause, ein ganzer Trupp, wobei die mir zugeteilte Dolmetscherin, ebenfalls eine Studentin, mir alles übersetzte. Erst wie ich die Zimmertür im Hotel hinter mir geschlossen hatte, war ich wirklich allein, allein eigentlich zum erstenmal seit zwölf Tagen, denn immer war man begleitet, immer umhütet, von warmen Wellen getragen. Ich begann mich auszuziehen und legte meinen Rock ab. Dabei spürte ich etwas knistern. Ich griff in die Tasche. Es war ein Brief. Ein Brief in französischer 247
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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