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ihn ein oder zwei Jahre später in Sorrent wieder, wohin er sich wegen seiner
gefährdeten Gesundheit hatte begeben müssen, und verbrachte dort drei
unvergeßliche Tage als Gast in seinem Hause.
Dieses unser Beisammensein war eigentlich sehr sonderbar. Gorkij
beherrschte keine ausländische Sprache, ich wiederum nicht die russische.
Nach allen Regeln der Logik hätten wir also einander stumm gegenübersitzen
müssen oder ein Gespräch nur dank unserer verehrten Freundin Maria
Baronin Budberg durch Verdolmetschung aufrechterhalten können. Aber
Gorkij war keineswegs bloß zufällig einer der genialsten Erzähler der
Weltliteratur; erzählen bedeutete für ihn nicht nur künstlerische
Ausdrucksform, es war eine funktionelle Emanation seines ganzen Wesens.
Im Erzählen lebte er in dem Erzählten, verwandelte er sich in das Erzählte,
und ich verstand ihn, ohne die Sprache zu verstehen, schon im voraus durch
die plastische Tätigkeit seines Gesichts. An und für sich sah er nur – man
kann es nicht anders sagen – ›russisch‹ aus. Nichts war auffallend an seinen
Zügen; man hätte den hohen hagern Mann mit dem strohgelben Haar und den
breiten Backenknochen sich als Bauer auf dem Felde denken können, als
Kutscher auf einer Droschke, als kleinen Schuster, als verwahrlosten
Vaganten – er war nichts als ›Volk‹, als konzentrierte Urform des russischen
Menschen. Auf der Straße wäre man achtlos an ihm vorübergegangen, ohne
das Besondere an ihm zu merken. Erst wenn man ihm gegenübersaß und er zu
erzählen begann, erkannte man, wer er war. Denn er wurde unwillkürlich der
Mensch, den er porträtierte. Ich erinnere mich, wie er – ich verstand schon,
ehe man mir übersetzte – einen alten, buckligen, müden Menschen beschrieb,
den er auf seinen Wanderungen einmal getroffen hatte. Unwillkürlich sank
der Kopf ein, die Schultern drückten sich nieder, seine Augen, strahlend blau
und leuchtend, als er begonnen, wurden dunkel und müde, seine Stimme
brüchig; er hatte sich, ohne es zu wissen, in den alten Buckligen verwandelt.
Und sofort, wenn er etwas Heiteres schilderte, brach das Lachen breit aus
seinem Mund, er lehnte sich locker zurück, ein Glanz schimmerte auf seiner
Stirn; es war eine unbeschreibliche Lust, ihm zuzuhören, während er mit
runden, gleichsam bildnerischen Bewegungen Landschaft und Menschen um
sich stellte. Alles an ihm war einfach-natürlich, sein Gehen, sein Sitzen, sein
Lauschen, sein Übermut; eines Abends verkleidete er sich als Bojar, legte sich
einen Säbel um, und sofort kam Hoheit in seinen Blick. Befehlend spannten
sich seine Augenbrauen, er ging energisch im Zimmer auf und ab, als erwäge
er einen grimmigen Ukas, und im nächsten Augenblick, als er die Verkleidung
abgenommen, lachte er kindlich wie ein Bauernjunge. Seine Vitalität war ein
Wunder; er lebte mit seiner zerstörten Lunge eigentlich gegen alle Gesetze der
Medizin, aber ein unheimlicher Lebenswille, ein ehernes Pflichtgefühl hielten
ihn aufrecht; jeden Morgen schrieb er mit seiner klaren kalligraphischen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286