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fahren. Dann hätte ich wieder gewußt, was Rußland ist. In der Ferne verlernt
man das Beste, keiner von uns hat im Exil noch etwas Gutes geleistet.«
Aber Gorkij irrte, wenn er Sorrent ein Exil nannte. Er konnte doch jeden
Tag heimkehren und ist auch tatsächlich heimgekehrt. Er war nicht verbannt
mit seinen Büchern, mit seiner Person wie Mereschkowskij – ich bin dem
tragisch Verbitterten in Paris begegnet –, nicht wie wir es heute sind, die nach
Grillparzers schönem Wort ›zwei Fremden und keine Heimat‹ haben,
unbehaust in geborgten Sprachen und umgetrieben vom Wind. Einen
wirklichen Exilierten dagegen und einen besonderer Art konnte ich in den
nächsten Tagen in Neapel aufsuchen: Benedetto Croce. Jahrzehntelang war er
der geistige Führer der Jugend gewesen, er hatte als Senator und Minister alle
äußeren Ehren in seinem Lande gehabt, bis sein Widerstand gegen den
Faschismus ihn mit Mussolini in Konflikt brachte. Er legte seine Ämter
nieder und zog sich zurück; dies aber genügte den Intransigenten nicht, sie
wollten seinen Widerstand brechen und ihn notfalls sogar züchtigen. Die
Studenten, im Gegensatz zu einst, heute überall Stoßtruppe der Reaktion,
stürmten sein Haus und schlugen ihm die Scheiben ein. Aber der kleine
untersetzte Mann, der mit seinen klugen Augen und seinem Spitzbärtchen
eher wie ein behaglicherBürgersmann aussieht, ließ sich nicht einschüchtern.
Er verließ nicht das Land, er blieb in seinem Hause hinter dem Wall seiner
Bücher, obwohl er Rufe an amerikanische und ausländische Universitäten
hatte. Er setzte seine Zeitschrift ›Critica‹ in der gleichen Gesinnung fort,
veröffentlichte weiter seine Bücher, und so stark war seine Autorität, daß die
sonst unerbittliche Zensur auf Befehl Mussolinis vor ihm halt machte,
während seine Schüler, seine Gesinnungsgenossen völlig erledigt wurden. Ihn
aufzusuchen erforderte für einen Italiener und sogar für einen Ausländer
besonderen Mut, denn die Behörden wußten wohl, daß er in seiner Zitadelle,
seinen mit Büchern überfüllten Zimmern ohne Maske und Schminke sprach.
So lebte er gleichsam in einem luftdicht abgeschlossenen Raum, in einer Art
Gasflasche inmitten der vierzig Millionen seiner Landsleute. Diese
hermetische Isolierung eines einzelnen in einer Millionenstadt, einem
Millionenland hatte für mich gleichzeitig etwas Gespenstisches und
Großartiges. Noch wußte ich nicht, daß dies noch immer eine bedeutend
mildere Form der geistigen Abtötung bedeutete, als sie später uns selber zuteil
werden sollte, und konnte nicht umhin zu bewundern, welche Frische und
geistige Spannkraft dieser immerhin schon alte Mann sich in dem täglichen
Kampfe bewahrte. Aber er lachte. »Gerade der Widerstand ist es, der einen
verjüngt. Wäre ich Senator geblieben, so hätte ich es leicht gehabt, ich wäre
längst geistig träge und inkonsequent geworden. Nichts schadet dem geistigen
Menschen mehr als Mangel am Widerstand; erst seit ich allein stehe und die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286