Seite - 252 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Jugend nicht mehr um mich habe, bin ich genötigt, selbst wieder jung zu
werden.«
Aber einige Jahre mußten erst vergehen, bis auch ich verstand, daß Prüfung
herausfordert, Verfolgung bestärkt und Vereinsamung steigert, sofern sie
einen nicht zerbricht. Wie alle wesentlichen Dinge des Lebens lernt man
derlei Erkenntnisse nie an fremden Erfahrungen, sondern immer nur an dem
eigenen Schicksal.
Daß ich den wichtigsten Mann Italiens, Mussolini, nie gesehen habe, ist
meiner Gehemmtheit zuzuschreiben, mich politischen Persönlichkeiten zu
nähern; selbst in meinem Vaterlande, dem kleinen Österreich, bin ich, was
eigentlich ein Kunststück war, keinem von den führenden Staatsmännern –
nicht Seipel, nicht Dollfuß, nicht Schuschnigg – je begegnet. Und doch wäre
es meine Pflicht gewesen, Mussolini, der, wie ich von gemeinsamen Freunden
wußte, einer der ersten und besten Leser meiner Bücher in Italien war,
persönlich Dank zu sagen für die spontane Art, in der er mir die erste Bitte,
die ich je an einen Staatsmann gerichtet, erfüllt hatte.
Das kam so. Eines Tages erhielt ich einen Eilbrief eines Freundes aus Paris,
eine italienische Dame wolle mich in einer wichtigen Angelegenheit in
Salzburg besuchen, ich möchte sie sofort empfangen. Sie meldete sich am
nächsten Tage, und was sie mir sagte, war wirklich erschütternd. Ihr Mann,
ein hervorragender Arzt aus armer Familie, war von Matteotti auf seine
Kosten erzogen worden. Bei der brutalen Ermordung dieses sozialistischen
Führers durch die Faschisten hatte das schon stark ermüdete Weltgewissen
noch einmal erbittert gegen ein einzelnes Verbrechen reagiert. Ganz Europa
hatte sich in Entrüstung erhoben. Der getreue Freund war nun einer jener
sechs Couragierten gewesen, die damals gewagt hatten, öffentlich den Sarg
des Ermordeten durch die Straßen von Rom zu tragen; kurz darauf war er,
boykottiert und bedroht, ins Exil gegangen. Aber das Schicksal der Familie
Matteottis ließ ihm keine Ruhe, er wollte in Erinnerung an seinen Wohltäter
dessen Kinder aus Italien ins Ausland schmuggeln. Bei diesem Versuch war
er in die Hände von Spionen oder Agents provocateurs gefallen und verhaftet
worden. Da jede Erinnerung an Matteotti für Italien peinlich war, hätte ein
Prozeß aus diesem Anlaß kaum sehr schlimm für ihn ausfallen können; aber
der Prokurator schob ihn geschickt in einen anderen gleichzeitigen Prozeß
hinüber, dem ein geplantes Bombenattentat gegen Mussolini zugrunde lag.
Und der Arzt, der im Felde die höchsten Kriegsdekorationen erworben hatte,
wurde zu zehn Jahren schwerem Zuchthaus verurteilt.
Die junge Frau war verständlicherweise ungeheuer erregt. Man müsse
etwas gegen dieses Urteil tun, das ihr Mann nicht überleben könne. Man
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286