Seite - 253 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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müsse alle literarischen Namen Europas zu einem lauten Protest vereinigen,
und sie bitte mich, ihr behilflich zu sein. Ich riet sofort ab, etwas mit Protesten
zu versuchen. Ich wußte, wie abgebraucht seit dem Kriege alle diese
Manifestationen geworden waren. Ich versuchte ihr klar zu machen, daß
schon aus Nationalstolz kein Land von außen seine Justiz korrigieren lasse,
und daß der europäische Protest im Falle Sacco und Vanzetti in Amerika eher
ungünstige als fördernde Wirkung gehabt. Ich bat sie dringend, nichts in
diesem Sinne zu tun. Sie würde bloß die Situation ihres Mannes
verschlimmern, denn nie werde Mussolini, nie könne er, selbst wenn er wolle,
eine Milderung anordnen, wenn man versuche, sie ihm von außen
aufzunötigen. Aber ich versprach, aufrichtig erschüttert, mein Bestes zu tun.
Ich ginge zufällig nächste Woche nach Italien, wo ich wohlmeinende Freunde
in einflußreichen Stellungen hätte. Vielleicht könnten die im stillen zu seinen
Gunsten wirken.
Ich versuchte es gleich am ersten Tage. Aber ich sah, wie sehr schon die
Furcht sich in die Seelen eingefressen hatte. Kaum nannte ich den Namen,
wurde jeder verlegen. Nein, er habe da keinen Einfluß. Es sei völlig
unmöglich. So ging es von einem zum andern. Ich kam beschämt zurück,
denn vielleicht konnte die Unglückliche glauben, ich hätte nicht das Äußerste
versucht. Und ich hatte es auch nicht versucht. Es blieb noch eine
Möglichkeit – der gerade, der offene Weg: an den Mann, in dessen Händen
die Entscheidung lag, an Mussolini selbst zu schreiben.
Ich tat es. Ich richtete einen wirklich ehrlichen Brief an ihn. Ich wollte
nicht mit Schmeicheleien beginnen, schrieb ich, und auch gleich zu Anfang
sagen, daß ich den Mann sowie das Ausmaß seines Beginnens nicht kenne.
Aber ich hätte seine Frau gesehen, die zweifellos unschuldig sei, und auch auf
sie falle die volle Wucht der Strafe, wenn ihr Mann diese Jahre im Zuchthaus
verbringe. Ich wolle keineswegs Kritik an dem Urteil üben, aber ich könne
mir denken, daß es für die Frau Lebensrettung bedeute, wenn ihr Mann statt
ins Zuchthaus auf eine der Gefangenen-Inseln gebracht werde, wo es Frauen
und Kindern gestattet ist, mit den Exilierten zu wohnen.
Ich nahm den Brief und warf ihn, an Seine Exzellenz Benito Mussolini
adressiert, in den gewöhnlichen Salzburger Briefkasten. Vier Tage später
schrieb mir die Wiener Italienische Gesandtschaft, Seine Exzellenz lasse mir
danken und sagen, daß er meinem Wunsche stattgegeben und auch eine
Verkürzung der Strafzeit vorgesehen habe. Gleichzeitig kam aus Italien ein
Telegramm, das bereits die erbetene Überführung bestätigte. Mit einem
einzigen raschen Federstrich hatte Mussolini persönlich meine Bitte erfüllt,
und tatsächlich wurde der Verurteilte auch bald völlig begnadigt. Kein Brief
in meinem Leben hat mir mehr Freude und Genugtuung gebracht, und wenn
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286