Seite - 254 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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je eines literarischen Erfolges, so denke ich dieses mit besonderer
Dankbarkeit.
Es war gut in jenen Jahren der letzten Windstille zu reisen. Aber es war
auch schön heimzukehren. Etwas Merkwürdiges hatte sich in aller Stille
ereignet. Die kleine Stadt Salzburg mit ihren 40 000 Einwohnern, die ich mir
gerade um ihrer romantischen Abgelegenheit willen gewählt, hatte sich
erstaunlich verwandelt: sie war im Sommer zur künstlerischen Hauptstadt
nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt geworden. Max Reinhardt und
Hugo von Hofmannsthal hatten in den schwersten Nachkriegsjahren, um der
Not der Schauspieler und Musiker abzuhelfen, die im Sommer brotlos waren,
ein paar Aufführungen, vor allem jene berühmte Freilichtaufführung des
›Jedermann‹ auf dem Salzburger Domplatz veranstaltet, die zunächst aus der
unmittelbaren Nachbarschaft Besucher anlockten; später hatte man es auch
mit Opernaufführungen versucht, die sich immer besser, immer vollendeter
anließen. Allmählich wurde die Welt aufmerksam. Die besten Dirigenten,
Sänger, Schauspieler drängten sich ehrgeizig heran, der Gelegenheit froh, statt
bloß vor ihrem eng heimischen auch vor einem internationalen Publikum ihre
Künste zeigen zu können. Mit einemmal wurden die Salzburger Festspiele
eine Weltattraktion, gleichsam die neuzeitlichen olympischen Spiele der
Kunst, bei denen alle Nationen wetteiferten, ihre besten Leistungen zur Schau
zu stellen. Niemand wollte mehr diese außerordentlichen Darstellungen
missen. Könige und Fürsten, amerikanische Millionäre und Filmdivas, die
Musikfreunde, die Künstler, die Dichter und Snobs gaben sich in den letzten
Jahren in Salzburg Rendezvous; nie war in Europa eine ähnliche
Konzentration der schauspielerischen und musikalischen Vollendung
gelungen wie in dieser kleinen Stadt des kleinen und lange mißachteten
Österreich. Salzburg blühte auf. In seinen Straßen begegnete man im Sommer
jedwedem aus Europa und Amerika, der in der Kunst die höchste Form der
Darbietung suchte, in Salzburger Landestracht – weiße kurze Leinenhosen
und Joppen für die Männer, das bunte ›Dirndlkostüm‹ für die Frauen –, das
winzige Salzburg beherrschte mit einemmal die Weltmode. In den Hotels
kämpfte man um Zimmer, die Auffahrt der Automobile zum Festspielhaus
war so prunkvoll wie einst jene zum kaiserlichen Hofball, der Bahnhof
ständig überflutet; andere Städte versuchten diesen goldhaltigen Strom zu sich
abzuziehen, keiner gelang es. Salzburg war und blieb in diesem Jahrzehnt der
künstlerische Pilgerort Europas.
So lebte ich mit einemmal in der eigenen Stadt inmitten von Europa.
Wieder hatte das Schicksal mir einen Wunsch erfüllt, den ich selbst kaum
auszudenken gewagt, und unser Haus auf dem Kapuzinerberg wurde ein
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286