Seite - 255 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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europäisches Haus. Wer ist dort nicht zu Gast gewesen? Unser Gästebuch
könnte es besser bezeugen als die bloße Erinnerung, aber auch dies Buch ist
mit dem Haus und vielem anderem den Nationalsozialisten verblieben. Mit
wem haben wir dort nicht herzliche Stunden verbracht, von der Terrasse
hinausblickend in die schöne und friedliche Landschaft, ohne zu ahnen, daß
gerade gegenüber auf dem Berchtesgadener Berg der eine Mann saß, der all
dies zerstören sollte? Romain Rolland hat bei uns gewohnt und Thomas
Mann, von den Schriftstellern sind H. G. Wells, Hofmannsthal, Jakob
Wassermann, van Loon, James Joyce, Emil Ludwig, Franz Werfel, Georg
Brandes, Paul Valéry, Jane Adams, Schalom Asch, Arthur Schnitzler
freundschaftlich empfangene Gäste gewesen, von den Musikern Ravel und
Richard Strauss, Alban Berg, Bruno Walter, Bartók und wer noch alles von
den Malern, den Schauspielern, den Gelehrten aus allen Winden? Wie viele
gute und helle Stunden geistigen Gesprächs wehte jeder Sommer uns zu!
Eines Tages klomm Arturo Toscanini die steilen Stufen empor, und mit der
gleichen Stunde begann eine Freundschaft, die mich Musik noch mehr, noch
wissender lieben und genießen ließ als je zuvor. Ich war jahrelang dann
getreuester Gast bei seinen Proben und erlebte den leidenschaftlichen Kampf
immer wieder, mit dem er jene Vollendung erzwingt, die dann in den
öffentlichen Konzerten gleichzeitig als Wunder und Selbstverständlichkeit
erscheint (ich versuchte einmal in einem Aufsatz diese Proben zu schildern,
die jedem Künstler den vorbildlichsten Antrieb darstellen, nicht abzulassen
bis zur letzten Fehllosigkeit). Herrlich ward mir Shakespeares Wort bestätigt,
daß ›Musik der Seele Nahrung‹ ist, und dem Wettstreit der Künste
zublickend, segnete ich das Geschick, das mir gegeben, ihnen dauernd
verbunden zu wirken. Wie reich, wie farbig waren diese Sommertage, da
Kunst und gesegnete Landschaft sich gegenseitig steigerten! Und immer,
wenn ich mich rückschauend an das Städtchen erinnerte, verfallen, grau,
bedrückt wie es unmittelbar nach dem Kriege gewesen, an unser eigenes
Haus, darin wir frierend den durch das Dach einbrechenden Regen bekämpft,
spürte ich erst, was diese benedeiten Jahre des Friedens für mein Leben getan.
Es war wieder erlaubt, an die Welt, an die Menschheit zu glauben.
Es kamen viele erwünschte berühmte Gäste in unser Haus in jenen Jahren,
aber auch in den Stunden des Alleinseins sammelte sich um mich ein
magischer Kreis erhabener Gestalten, deren Schatten und Spur zu beschwören
mir allmählich gelungen war: in meiner schon erwähnten Sammlung von
Autographen hatten sich die größten Meister aller Zeiten in ihrer Handschrift
zusammengefunden. Was ich als Fünfzehnjähriger dilettantisch begonnen,
hatte sich in all diesen Jahren dank vieler Erfahrung, reichlicherer Mittel und
eher noch gesteigerter Leidenschaft aus einem bloßen Nebeneinander in ein
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286