Seite - 256 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 256 -
Text der Seite - 256 -
organisches Gebilde und, ich darf es wohl sagen, in ein wirkliches Kunstwerk
verwandelt. In den Anfängen hatte ich wie jeder Anfänger nur getrachtet,
Namen zusammenzuraffen, berühmte Namen; dann hatte ich aus
psychologischer Neugier nur mehr Manuskripte gesammelt – Urschriften oder
Fragmente von Werken, die mir zugleich Einblick in die Schaffensweise eines
geliebten Meisters gewährten. Von den unzähligen unlösbaren Rätseln der
Welt bleibt das tiefste und geheimnisvollste doch das Geheimnis der
Schöpfung. Hier läßt sich die Natur nicht belauschen, niemals wird sie diesen
letzten Kunstgriff sich absehen lassen, wie die Erde entstand und wie eine
kleine Blume entsteht, wie ein Gedicht und wie ein Mensch. Hier zieht sie
unbarmherzig und unnachgiebig ihren Schleier vor. Selbst der Dichter, selbst
der Musiker wird nachträglich den Augenblick seiner Inspiration nicht mehr
erläutern können. Ist einmal die Schöpfung vollendet gestaltet, so weiß der
Künstler von ihrem Ursprung nicht mehr und nicht von ihrem Wachsen und
Werden. Nie oder fast nie vermag er zu erklären, wie in seinen erhobenen
Sinnen die Worte sich zu einer Strophe, wie aus einzelnen Tönen Melodien
sich zusammenfügten, die dann durch die Jahrhunderte klingen. Das einzige,
was eine leise Ahnung dieses unfaßbaren Schöpfungsprozesses gewähren
kann, sind die handschriftlichen Blätter und insbesondere die noch nicht für
den Druck bestimmten, die mit Korrekturen übersäten, noch ungewissen
ersten Entwürfe, aus denen sich dann erst allmählich die künftige gültige
Form kristallisiert. Solche Blätter von allen großen Dichtern, Philosophen und
Musikern, solche Korrekturen und somit Zeugen ihres Arbeitskampfes zu
vereinigen, war die zweite, wissendere Epoche meines
Autographensammelns. Es war für mich eine Lust, sie zusammenzujagen auf
Auktionen, eine gern getane Mühe, sie aufzuspüren an den verstecktesten
Stellen, und zugleich eine Art Wissenschaft, denn allgemach war neben
meiner Sammlung von Autographen eine zweite entstanden, die sämtliche
Bücher, die je über Autographen geschrieben worden sind, umfaßte, sämtliche
Kataloge, die je gedruckt worden sind, über viertausend an der Zahl, eine
Handbibliothek ohnegleichen und ohne einen einzigen Rivalen, weil selbst
die Händler nicht so viel Zeit und Liebe an ein Spezialfach wenden konnten.
Ich darf wohl sagen – was ich nie im Hinblick auf Literatur oder ein anderes
Gebiet des Lebens auszusprechen wagen würde –, daß ich in diesen dreißig
oder vierzig Jahren des Sammelns eine erste Autorität auf dem Gebiete der
Handschriften geworden war und von jedem bedeutenden Blatte wußte, wo es
lag, wem es gehörte und wie es zu seinem Besitzer gewandert war, ein
wirklicher Kenner also, der Echtheit auf den ersten Blick bestimmen konnte
und in der Bewertung erfahrener als die meisten Professionellen war.
Aber allmählich ging mein sammlerischer Ehrgeiz weiter. Es genügte mir
nicht, eine bloße handschriftliche Galerie der Weltliteratur und Musik, einen
256
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286