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aus dem Kaiserquartett. In einigen Fällen gelang es mir sogar, die einmalige
Form des Schöpferischen zu einem ganzen Lebensbilde der schöpferischen
Individualität zu erweitern. So hatte ich von Mozart nicht bloß ein ungelenkes
Blatt des elfjährigen Knaben, sondern auch als Zeichen seiner Liederkunst das
unsterbliche ›Veilchen‹ Goethes, von seiner Tanzmusik die Menuette, die
Figaros ›Non piú andrai‹ paraphrasierten, und aus dem ›Figaro‹ selbst die
Arie des Cherubin, anderseits wieder die zauberhaft unanständigen, niemals
im vollen Text öffentlich gedruckten Briefe an das Bäsle und einen skabrösen
Kanon und schließlich noch ein Blatt, das er knapp vor seinem Tode
geschrieben, eine Arie aus dem ›Titus‹. Ebensoweit war der Lebensbogen bei
Goethe umrandet, das erste Blatt eine Übersetzung des neunjährigen Knaben
aus dem Lateinischen, das letzte ein Gedicht, im zweiundachtzigsten Jahre
knapp vor dem Tode geschrieben, und dazwischen ein mächtiges Blatt aus
dem Kronstück seines Schaffens, ein zweiseitiges Folioblatt aus dem ›Faust‹,
ein Manuskript zu den Naturwissenschaften, zahlreiche Gedichte und dazu
noch Zeichnungen aus den verschiedensten Stadien seines Lebens; man
überschaute Goethes ganzes Leben in diesen fünfzehn Blättern. Bei
Beethoven, dem Allerverehrtesten, konnte mir freilich ein solches
vollkommenes Rundbild nicht gelingen. Wie bei Goethe mein Verleger
Professor Kippenberg, war mir hier als Gegenkämpfer und Gegenbieter einer
der reichsten Männer der Schweiz entgegen, der einen Beethovenschatz
ohnegleichen ansammelte. Aber abgesehen von dem Jugendnotizbuch, dem
Lied ›Der Kuß‹ und Fragmenten aus der Egmont-Musik gelang es mir,
wenigstens einen Augenblick, den tragischsten seines Lebens, in einer
Vollkommenheit optisch darzustellen, wie ihn kein Museum der Erde zu
bieten vermag. Durch einen ersten Glücksfall konnte ich die ganzen noch
übrigen Einrichtungsstücke seines Zimmers, die nach seinem Tode versteigert
wurden und von Hofrat Breuning erworben worden waren, an mich bringen,
den mächtigen Schreibtisch vor allem, in dessen Laden verborgen sich die
beiden Bilder seiner Geliebten, der Gräfin Giulietta Guicciardi und der Gräfin
Erdödy fanden, die Geldkassette, die er bis zum letzten Augenblick neben
seinem Bette verwahrt, das kleine Schreibpult, auf dem er noch im Bett die
letzten Kompositionen und Briefe niedergeschrieben, eine weiße Locke von
seinem Haar, abgeschnitten an seinem Totenbett, die Einladung zum
Leichenbegängnis, den letzten Wäschezettel, den er mit zitternder Hand
geschrieben, das Dokument des Hausinventars bei der Versteigerung und die
Subskription seiner sämtlichen Wiener Freunde für die mittellos
zurückgelassene Köchin Sali. Und da dem richtigen Sammler der Zufall
immer freundlich in die Hände spielt, hatte ich, kurz nachdem ich alle diese
Dinge aus seinem Sterbezimmer erworben, Gelegenheit, noch die drei
Zeichnungen von seinem Totenbett an mich zu bringen. Aus den
Schilderungen der Zeitgenossen wußte man, daß ein junger Maler und Freund
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286