Seite - 261 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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entfernteste Bild dessen kam mir in den Sinn, was zu erleben mir noch
bevorstand, daß ich heimatlos, gehetzt, gejagt als Ausgetriebener noch einmal
von Land zu Land, über Meere und Meere würde wandern müssen, daß meine
Bücher verbrannt, verboten, geächtet werden sollten, mein Name in
Deutschland wie der eines Verbrechers angeprangert und dieselben Freunde,
deren Briefe und Telegramme vor mir auf dem Tisch lagen, erblassen würden,
wenn sie mir zufällig begegneten. Daß ausgelöscht werden könnte ohne Spur
alles, was dreißig und vierzig Jahre beharrlich geleistet, daß all dies Leben,
aufgebaut, fest und scheinbar unerschütterlich wie es vor mir stand, in sich
zerfallen könnte und daß ich nahe dem Gipfel gezwungen sein würde, mit
schon leicht ermüdenden Kräften und verstörter Seele noch einmal von
Anfang zu beginnen. Wahrhaftig, es war kein Tag, so Unsinniges und
Absurdes sich auszuträumen. Ich konnte zufrieden sein. Ich liebte meine
Arbeit und liebte darum das Leben. Ich war vor Sorge geschützt; selbst wenn
ich keine Zeile mehr schrieb, sorgten meine Bücher für mich. Alles schien
erreicht, das Schicksal gebändigt. Die Sicherheit, die ich in der Frühzeit
meines Elternhauses gekannt und die im Kriege verlorengegangen war, sie
war wiedergewonnen aus eigener Kraft. Was blieb noch zu wünschen?
Aber sonderbar – gerade daß ich in dieser Stunde nichts zu wünschen
wußte, schuf mir ein geheimnisvolles Unbehagen. Wäre es wirklich gut,
fragte etwas in mir – ich war es nicht selbst –, wenn dein Leben so
weiterginge, so windstill, so geregelt, so einträglich, so bequem, so ohne neue
Anspannung und Prüfung? Ist sie dir, ist sie dem Wesentlichen in dir nicht
eher unzugehörig, diese privilegierte, ganz in sich gesicherte Existenz? Ich
ging nachdenklich durch das Haus. Es war schön geworden in diesen Jahren
und genau so wie ich es gewollt. Aber doch, sollte ich immer hier leben,
immer an demselben Schreibtisch sitzen und Bücher schreiben, ein Buch und
noch ein Buch und dann die Tantiemen empfangen und noch mehr Tantiemen,
allmählich ein würdiger Herr werdend, der seinen Namen und sein Werk mit
Anstand und Haltung zu verwalten hat, abgeschieden schon von allem
Zufälligen, allen Spannungen und Gefahren? Sollte es immer so weitergehen
bis sechzig, bis siebzig in geradem, glattem Geleise? Wäre es nicht besser für
mich – so träumte es in mir weiter – etwas anderes käme, etwas Neues, etwas
das mich unruhiger, gespannter, das mich jünger machte, indem es mich
herausforderte zu neuem und vielleicht noch gefährlicherem Kampf? Immer
haust ja in jedem Künstler ein geheimnisvoller Zwiespalt: wirft ihn das Leben
wild herum, so sehnt er sich nach Ruhe; aber ist ihm Ruhe gegeben, so sehnt
er sich in die Spannungen zurück. So hatte ich an diesem fünfzigsten
Geburtstage im tiefsten nur den einen frevlerischen Wunsch: etwas möchte
geschehen, das mich noch einmal wegrisse von diesen Sicherheiten und
Bequemlichkeiten, das mich nötigte, nicht bloß fortzusetzen, sondern wieder
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286