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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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entfernteste Bild dessen kam mir in den Sinn, was zu erleben mir noch bevorstand, daß ich heimatlos, gehetzt, gejagt als Ausgetriebener noch einmal von Land zu Land, über Meere und Meere würde wandern müssen, daß meine Bücher verbrannt, verboten, geächtet werden sollten, mein Name in Deutschland wie der eines Verbrechers angeprangert und dieselben Freunde, deren Briefe und Telegramme vor mir auf dem Tisch lagen, erblassen würden, wenn sie mir zufällig begegneten. Daß ausgelöscht werden könnte ohne Spur alles, was dreißig und vierzig Jahre beharrlich geleistet, daß all dies Leben, aufgebaut, fest und scheinbar unerschütterlich wie es vor mir stand, in sich zerfallen könnte und daß ich nahe dem Gipfel gezwungen sein würde, mit schon leicht ermüdenden Kräften und verstörter Seele noch einmal von Anfang zu beginnen. Wahrhaftig, es war kein Tag, so Unsinniges und Absurdes sich auszuträumen. Ich konnte zufrieden sein. Ich liebte meine Arbeit und liebte darum das Leben. Ich war vor Sorge geschützt; selbst wenn ich keine Zeile mehr schrieb, sorgten meine Bücher für mich. Alles schien erreicht, das Schicksal gebändigt. Die Sicherheit, die ich in der Frühzeit meines Elternhauses gekannt und die im Kriege verlorengegangen war, sie war wiedergewonnen aus eigener Kraft. Was blieb noch zu wünschen? Aber sonderbar – gerade daß ich in dieser Stunde nichts zu wünschen wußte, schuf mir ein geheimnisvolles Unbehagen. Wäre es wirklich gut, fragte etwas in mir – ich war es nicht selbst –, wenn dein Leben so weiterginge, so windstill, so geregelt, so einträglich, so bequem, so ohne neue Anspannung und Prüfung? Ist sie dir, ist sie dem Wesentlichen in dir nicht eher unzugehörig, diese privilegierte, ganz in sich gesicherte Existenz? Ich ging nachdenklich durch das Haus. Es war schön geworden in diesen Jahren und genau so wie ich es gewollt. Aber doch, sollte ich immer hier leben, immer an demselben Schreibtisch sitzen und Bücher schreiben, ein Buch und noch ein Buch und dann die Tantiemen empfangen und noch mehr Tantiemen, allmählich ein würdiger Herr werdend, der seinen Namen und sein Werk mit Anstand und Haltung zu verwalten hat, abgeschieden schon von allem Zufälligen, allen Spannungen und Gefahren? Sollte es immer so weitergehen bis sechzig, bis siebzig in geradem, glattem Geleise? Wäre es nicht besser für mich – so träumte es in mir weiter – etwas anderes käme, etwas Neues, etwas das mich unruhiger, gespannter, das mich jünger machte, indem es mich herausforderte zu neuem und vielleicht noch gefährlicherem Kampf? Immer haust ja in jedem Künstler ein geheimnisvoller Zwiespalt: wirft ihn das Leben wild herum, so sehnt er sich nach Ruhe; aber ist ihm Ruhe gegeben, so sehnt er sich in die Spannungen zurück. So hatte ich an diesem fünfzigsten Geburtstage im tiefsten nur den einen frevlerischen Wunsch: etwas möchte geschehen, das mich noch einmal wegrisse von diesen Sicherheiten und Bequemlichkeiten, das mich nötigte, nicht bloß fortzusetzen, sondern wieder 261
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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