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damals noch ausschließlich in bayrischen Bierkellern seine Reden hielt,
konnte diese Tausende junger Burschen zu einem so kostspieligen Apparat
aufgerüstet haben. Es mußten stärkere Hände sein, welche diese neue
›Bewegung‹ vorschoben. Denn die Uniformen waren blitzblank, die
›Sturmtrupps‹, die von Stadt zu Stadt geschickt wurden, verfügten inmitten
einer Armutszeit, da die wirklichen Veteranen der Armee noch in zerfetzten
Uniformen herumgingen, über einen erstaunlichen Park von tadellos neuen
Automobilen, Motorrädern und Lastwagen. Außerdem war es offenkundig,
daß militärische Führung diese jungen Leute taktisch trainierte – oder, wie
man damals sagte »paramilitärisch« disziplinierte – und daß es die
Reichswehr selbst sein mußte, in deren Geheimdienst Hitler als Spitzel von
Anfang an gestanden, die hier an einem ihr bereitwillig gelieferten Material
regelmäßige technische Schulung vornahm. Zufällig hatte ich bald
Gelegenheit, eine dieser im voraus geübten ›Kampfhandlungen‹ zu
beobachten. In einem der Grenzorte, wo gerade eine sozialdemokratische
Versammlung in friedlichster Weise abgehalten wurde, sausten plötzlich vier
Lastautos heran, jedes vollgepackt mit Gummiknüppel tragenden
nationalsozialistischen Burschen, und genau wie ich es damals in Venedig am
Markusplatz gesehen, überrumpelten sie die Unvorbereiteten durch
Geschwindigkeit. Es war dieselbe, den Faschisten abgelernte Methode, nur
noch militärisch präziser eingedrillt und im deutschen Sinn bis ins kleinste
systematisch vorbereitet. Blitzschnell sprangen auf einen Pfiff die SA.-
Männer von den Autos, hieben mit ihren Gummiknüppeln auf jeden ein, der
sich ihnen in den Weg stellte, und waren, ehe die Polizei eingreifen oder die
Arbeiter sich sammeln konnten, schon wieder auf die Autos aufgesprungen
und sausten davon. Was mich verblüffte, war die exakte Technik dieses Ab-
und Aufspringens, das jedesmal auf einen einzigen scharfen Pfiff des
Rottenführers erfolgte. Man sah, jeder einzelne Bursche wußte im voraus bis
in Muskel und Nerv, mit welchem Griff und bei welchem Rad des Autos und
an welchem Platz er aufzuspringen hatte, um nicht dem Nächsten in den Weg
zu kommen und dadurch das Ganze zu gefährden. Es war keineswegs
persönliche Geschicklichkeit, sondern jeder dieser Handgriffe mußte dutzende
und vielleicht hunderte Male im voraus in Kasernen und auf Exerzierplätzen
geübt worden sein. Von Anfang an – das zeigte dieser erste Blick – war diese
Truppe auf Angriff, Gewalt und Terror geschult.
Bald hörte man mehr von diesen unterirdischen Manövern im bayrischen
Land. Wenn alles schlief, schlichen die jungen Burschen aus den Häusern und
versammelten sich zu nächtlichen ›Geländeübungen‹; Offiziere der
Reichswehr in oder außer Dienst, vom Staat oder den geheimnisvollen
Geldgebern der Partei bezahlt, drillten diese Trupps ein, ohne daß die
Behörden für diese seltsamen Nachtmanöver viel Aufmerksamkeit zeigten.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286