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Schliefen sie wirklich oder drückten sie nur die Augen zu? Hielten sie die
Bewegung für gleichgültig oder förderten sie sogar heimlich ihre
Ausbreitung? Jedenfalls wurden selbst die, welche die Bewegung unterirdisch
stützten, dann erschreckt durch die Brutalität und Raschheit, mit der sie
plötzlich auf die Beine sprang. Eines Morgens wachten die Behörden auf und
München war in Hitlers Hand, alle Amtsstellen besetzt, die Zeitungen mit
dem Revolver gezwungen, die vollzogene Revolution triumphierend
anzukündigen. Wie aus den Wolken, zu denen die ahnungslose Republik bloß
träumerisch emporgeblickt, erschien der deus ex machina, General
Ludendorff, dieser erste von vielen, die glaubten, Hitler überspielen zu
können, und die statt dessen von ihm genarrt wurden. Vormittags begann der
berühmte Putsch, der Deutschland erobern sollte, mittags (ich habe hier nicht
Weltgeschichte zu erzählen) war er bekanntlich bereits zu Ende. Hitler
flüchtete und wurde bald verhaftet; damit schien die Bewegung erloschen. In
diesem Jahr 1923 verschwanden die Hakenkreuze, die Sturmtrupps und der
Name Adolf Hitlers fiel beinahe in Vergessenheit zurück. Niemand dachte
mehr an ihn als einen möglichen Machtfaktor.
Erst nach ein paar Jahren tauchte er wieder auf, und nun trug ihn die
aufbrausende Welle der Unzufriedenheit rasch hoch. Die Inflation, die
Arbeitslosigkeit, die politischen Krisen und nicht zum mindesten die Torheit
des Auslands hatten das deutsche Volk aufgewühlt; ein ungeheures Verlangen
nach Ordnung war in allen Kreisen des deutschen Volkes, dem Ordnung von
je mehr galt alsFreiheit und Recht. Und wer Ordnung versprach – selbst
Goethe hat gesagt, daß Unordnung ihm unlieber wäre als selbst eine
Ungerechtigkeit –, der hatte von Anbeginn Hunderttausende hinter sich.
Aber wir merkten noch immer nicht die Gefahr. Die wenigen unter den
Schriftstellern, die sich wirklich die Mühe genommen hatten, Hitlers Buch zu
lesen, spotteten, anstatt sich mit seinem Programm zu befassen, über die
Schwülstigkeit seiner papiernen Prosa. Die großen demokratischen Zeitungen
– statt zu warnen – beruhigten tagtäglich von neuem ihre Leser, die
Bewegung, die wirklich nur mühsam mit den Geldern der Schwerindustrie
und verwegener Schuldenmacherei ihre enorme Agitation finanzierte, müsse
unvermeidlich morgen oder übermorgen zusammenbrechen. Aber vielleicht
ist im Ausland nie der eigentliche Grund verständlich gewesen, warum
Deutschland die Person und die steigende Macht Hitlers in all diesen Jahren
dermaßen unterschätzte und bagatellisierte: Deutschland ist nicht nur immer
ein Klassenstaat gewesen, sondern innerhalb dieses Klassenideals außerdem
noch mit einer unerschütterlichen Überschätzung und Vergötterung der
›Bildung‹ belastet. Abgesehen von einigen Generälen blieben dort die hohen
Stellen im Staat ausschließlich den sogenannten ›akademisch Gebildeten‹
vorbehalten; während in England ein Lloyd George, in Italien ein Garibaldi
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286