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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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hätte erwarten sollen, weil sie hofften, daß er ihre Erzfeinde, die hinter ihnen so unangenehm drängenden Kommunisten, abtun würde. Die verschiedensten, die gegensätzlichsten Parteien betrachteten diesen ›unbekannten Soldaten‹, der jedem Stand, jeder Partei, jeder Richtung alles versprochen und beschworen hatte, als ihren Freund – sogar die deutschen Juden waren nicht sehr beunruhigt. Sie machten sich vor, ein ›ministre Jacobin‹ sei kein Jakobiner mehr, ein Kanzler des Deutschen Reiches werde die Vulgaritäten eines antisemitischen Agitators selbstverständlich abtun. Und schließlich, was konnte er Gewalttätiges durchsetzen in einem Staate, wo das Recht fest verankert war, wo im Parlament die Majorität gegen ihn stand und jeder Staatsbürger seine Freiheit und Gleichberechtigung nach der feierlich beschworenen Verfassung gesichert meinte? Dann kam der Reichstagsbrand, das Parlament verschwand, Göring ließ seine Rotten los, mit einem Hieb war alles Recht in Deutschland zerschlagen. Schaudernd vernahm man, daß es mitten im Frieden Konzentrationslager gab und daß in die Kasernen geheime Gelasse eingebaut wurden, in denen man unschuldige Menschen ohne Gericht und Formalität erledigte. Das konnte nur ein Ausbruch erster sinnloser Wut sein, sagte man sich. Derlei kann nicht dauern im zwanzigsten Jahrhundert. Aber es war erst der Anbeginn. Die Welt horchte auf und weigerte sich zunächst, das Unglaubhafte zu glauben. Aber schon in jenen Tagen sah ich die ersten Flüchtlinge. Sie waren nachts über die Salzburger Berge geklettert oder durch den Grenzfluß geschwommen. Ausgehungert, abgerissen, verstört starrten sie einen an; mit ihnen hatte die panische Flucht vor der Unmenschlichkeit begonnen, die dann über die ganze Erde ging. Aber noch ahnte ich nicht, als ich diese Ausgetriebenen sah, daß ihre blassen Gesichter schon mein eigenes Schicksal kündeten, und daß wir alle Opfer sein würden der Machtwut dieses einen Mannes. Man kann dreißig oder vierzig Jahre inneren Weltglaubens schwer abtun in einigen wenigen Wochen. Verankert in unseren Anschauungen des Rechts, glaubten wir an die Existenz eines deutschen, eines europäischen, eines Weltgewissens und waren überzeugt, es gebe ein Maß von Unmenschlichkeit, das sich selbst ein für allemal vor der Menschheit erledige. Da ich versuche, hier so ehrlich als möglich zu bleiben, muß ich bekennen, daß wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedesmal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später hereinbrechen sollte. Allerdings: daß wir freien und unabhängigen Schriftsteller gewisse Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten, Feindseligkeiten zu erwarten hätten, war von vorneweg klar. Sofort nach dem Reichstagsbrand sagte ich meinem Verleger, es werde nun bald vorbei sein 267
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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