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seinen späteren Jahren, ausschließlich der Oper zugewandt. Er wisse wohl,
daß es mit der Oper als Kunstform eigentlich vorbei sei. Wagner sei ein so
ungeheurer Gipfel, daß niemand über ihn hinauskommen könne. »Aber«,
fügte er mit einem breiten bajuwarischen Lachen bei, »ich habe mir geholfen,
indem ich einen Umweg um ihn gemacht habe.«
Nachdem wir uns über die Grundlinien klar geworden, gab er mir noch
einige kleine Instruktionen. Er wolle mir absolute Freiheit lassen, denn ihn
inspiriere niemals ein schon im voraus zugeschneiderter Operntext im
Verdischen Sinne, sondern immer nur eine dichterische Arbeit. Nur wäre ihm
lieb, wenn ich ein paar komplizierte Formen einbauen könnte, die der
Koloristik besondere Entwicklungsmöglichkeiten geben würden. »Mir
fallen keine langen Melodien ein wie dem Mozart. Ich bringe es immer nur zu
kurzen Themen. Aber was ich verstehe, ist dann so ein Thema zu wenden, zu
paraphrasieren, aus ihm alles herauszuholen, was drinnen steckt, und ich
glaube, das macht mir heute keiner nach.« Wieder war ich verblüfft über diese
Offenheit, denn wirklich findet sich bei Strauss kaum je eine Melodie, die
über ein paar Takte hinausreicht; aber wie sind dann diese wenigen Takte –
etwa des Rosenkavalierwalzers – gesteigert und fugiert zu einer
vollkommenen Fülle!
Ebenso wie bei dieser ersten Begegnung war ich bei jeder neuen immer
wieder voll Bewunderung, mit welcher Sicherheit und Sachlichkeit dieser alte
Meister sich selbst in seinem Werke gegenüberstand. Einmal saß ich mit ihm
allein bei einer geschlossenen Probe seiner ›Ägyptischen Helena‹ im
Salzburger Festspielhaus. Niemand anderer war im Raum, es war
vollkommen dunkel um uns. Er hörte zu. Auf einmal merkte ich, daß er leise
und ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne trommelte. Dann flüsterte
er mir zu: »Schlecht! Ganz schlecht! Da ist mir gar nichts eingefallen.« Und
nach einigen Minuten wieder: »Wenn ich das nur streichen könnte! O Gott, o
Gott, das ist ganz leer und zu lang, viel zu lang!« und wieder nach ein paar
Minuten: »Sehen S’, das ist gut!« Er beurteilte sein eigenes Werk so sachlich
und unbeteiligt, als ob er diese Musik zum ersten Male höre und als ob sie
von einem ganz wildfremden Komponisten geschrieben sei, und dieses
erstaunliche Gefühl für sein eigenes Maß verließ ihn niemals. Immer wußte er
genau, wer er war und wieviel er konnte. Wie wenig oder wieviel die andern
im Vergleich zu ihm bedeuteten, interessierte ihn nicht sehr und ebensowenig,
wieviel er den anderen galt. Was ihn freute, war die Arbeit selbst.
Dieses ›Arbeiten‹ ist bei Strauss ein ganz merkwürdiger Prozeß. Nichts
vom Dämonischen, nichts von dem ›Raptus‹ des Künstlers, nichts von jenen
Depressionen und Desperationen, wie man sie aus Beethovens, aus Wagners
Lebensbeschreibungen kennt. Strauss arbeitet sachlich und kühl, er
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286