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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der nackten Gewalt zur Beute fiel! Jetzt sank die Maske. Da die andern Staaten offen ihre Furcht gezeigt, brauchte sich die Brutalität keinerlei moralische Hemmung mehr aufzuerlegen, sie bediente sich – was galt noch England, was Frankreich, was die Welt? – keiner heuchlerischen Vorwände mehr von ›Marxisten‹, die politisch ausgeschaltet werden sollten. Jetzt wurde nicht mehr bloß geraubt und gestohlen, sondern jedem privaten Rachegelüst freies Spiel gelassen. Mit nackten Händen mußten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ›Heil Hitler‹ zu schreien. Man fing unschuldige Menschen auf der Straße wie Hasen zusammen und schleppte sie, die Abtritte der SA.-Kasernen zu fegen; alles, was krankhaft schmutzige Haßphantasie in vielen Nächten sich orgiastisch ersonnen, tobte sich am hellen Tage aus. Daß sie in die Wohnungen einbrachen und zitternden Frauen die Ohrgehänge abrissen – dergleichen mochte sich bei Städteplünderungen vor Hunderten Jahren in mittelalterlichen Kriegen ebenfalls ereignet haben; neu aber war die schamlose Lust des öffentlichen Quälens, die seelischen Marterungen, die raffinierten Erniedrigungen. All dies ist verzeichnet nicht von einem, sondern von Tausenden, die es erlitten, und eine ruhigere, nicht wie unsere moralisch schon ermüdete Zeit wird mit Schaudern einst lesen, was in dieser Stadt der Kultur im zwanzigsten Jahrhundert ein einziger haß wütiger Mensch verbrochen. Denn das ist Hitlers diabolischster Triumph inmitten seiner militärischen und politischen Siege diesem einen Manne ist es gelungen, durch fortwährende Übersteigerung jeden Rechtsbegriff abzustumpfen. Vor dieser ›Neuen Ordnung‹ hatte die Ermordung eines einzigen Menschen ohne Gerichtsspruch und äußere Ursache noch eine Welt erschüttert, Folterung galt für undenkbar im zwanzigsten Jahrhundert, Expropriierungen nannte man noch klar Diebstahl und Raub. Jetzt aber, nach den immer erneut sich folgenden Bartholomäusnächten, nach den täglichen Zutodefolterungen in den Zellen der SA. und hinter den Stacheldrähten, was galt da noch ein einzelnes Unrecht, was irdisches Leiden? 1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglückseligen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh. Diese Tage, da täglich die Hilfeschreie aus der Heimat gellten, da man nächste Freunde verschleppt, gefoltert und erniedrigt wußte und für jeden hilflos zitterte, den man liebte, gehören für mich zu den furchtbarsten meines Lebens. Und ich schäme mich nicht zu sagen – so hat die Zeit unser Herz 297
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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