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den neuen nationalsozialistischen Gesetzen nicht möglich, über Nacht bei der
Sterbenden zu bleiben. Mein Vetter sei Jude, und sie als eine Frau unter
fünfzig dürfe, auch bei einer Sterbenden, sich nicht gleichzeitig mit ihm unter
demselben Dache über Nacht aufhalten, der Mentalität Streichers gemäß
mußte ja eines Juden erster Gedanke sein, Rassenschande an ihr zu
praktizieren. Selbstverständlich, sagte sie, sei ihr diese Vorschrift furchtbar
peinlich, aber sie sei genötigt, sich den Gesetzen zu fügen. So war mein
sechzigjähriger Vetter, nur damit die Pflegerin bei meiner sterbenden Mutter
verbleiben konnte, gezwungen, abends das Haus zu verlassen; vielleicht
versteht man nun, daß ich sie glücklich pries, nicht länger unter solchen
Menschen leben zu müssen.
Der Fall Österreichs brachte in meiner privaten Existenz eine Veränderung
mit sich, die ich zuerst als eine gänzlich belanglose und bloß formelle ansah;
ich verlor damit meinen österreichischen Paß und mußte von den englischen
Behörden ein weißes Ersatzpapier, einen Staatenlosenpaß erbitten. Oft hatte
ich in meinen kosmopolitischen Träumereien mir heimlich ausgemalt, wie
herrlich es seinmüsse, wie eigentlich gemäß meinem inneren Empfinden,
staatenlos zu sein, keinem Lande verpflichtet und darum allen unterschiedslos
zugehörig. Aber wieder einmal mußte ich erkennen, wie unzulänglich unsere
irdische Phantasie ist, und daß man gerade die wichtigsten Empfindungen erst
versteht, sobald man sie selbst durchlitten hat. Zehn Jahre früher, als ich
Dimitri Mereschkowskij einmal in Paris begegnete und er mir klagte, daß
seine Bücher in Rußland verboten seien, hatte ich Unerfahrener noch ziemlich
gedankenlos ihn zu trösten versucht, das besage doch nicht viel gegenüber
internationaler Weltverbreitung. Aber wie deutlich begriff ich, als dann meine
eigenen Bücher aus der deutschen Sprache verschwanden, seine Klage, nur in
Übertragungen, in verdünntem, verändertem Medium das geschaffene Wort
zur Erscheinung bringen zu können! Ebenso verstand ich erst in der Minute,
da ich nach längerem Warten auf der Bittstellerbank des Vorraums in die
englische Amtsstube eingelassen wurde, was dieser Umtausch meines Passes
gegen ein Fremdenpapier bedeutete. Denn auf meinen österreichischen Paß
hatte ich ein Anrecht gehabt. Jeder österreichische Konsulatsbeamte oder
Polizeioffizier war verpflichtet gewesen, ihn mir als vollberechtigtem Bürger
auszustellen. Das englische Fremdenpapier dagegen, das ich erhielt, mußte
ich erbitten. Es war eine erbetene Gefälligkeit und eine Gefälligkeit überdies,
die mir jeden Augenblick entzogen werden konnte. Über Nacht war ich
abermals eine Stufe hinuntergeglitten. Gestern noch ausländischer Gast und
gewissermaßen Gentleman, der hier sein internationales Einkommen
verausgabte und seine Steuern bezahlte, war ich Emigrant geworden, ein
›Refugee‹. Ich war in eine mindere, wenn auch nicht unehrenhafte Kategorie
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286