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hinabgedrückt. Außerdem mußte jedes ausländische Visum auf diesem
weißen Blatt Papier von nun an besonders erbeten werden, denn man war
mißtrauisch in allen Ländern gegen die ›Sorte‹ Mensch, zu der ich plötzlich
gehörte, gegen den Rechtlosen, den Vaterlandslosen, den man nicht notfalls
abschieben und zurückspedieren konnte in seine Heimat wie die andern, wenn
er lästig wurde und zu lange blieb. Und ich mußte immer an das Wort denken,
das mir vor Jahren ein exilierter Russe gesagt: »Früher hatte der Mensch nur
einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst
wird er nicht wie ein Mensch behandelt.«
In der Tat: nichts vielleicht macht den ungeheuren Rückfall sinnlicher, in
den die Welt seit dem ersten Weltkrieg geraten ist, als die Einschränkung der
persönlichen Bewegungsfreiheit des Menschen und die Verminderung seiner
Freiheitsrechte. Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging,
wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine
Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger
Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und
Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu
haben. Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden,
man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute
abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen;
dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten
dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau
verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien, die man ebenso
sorglos überschritt wie den Meridian in Green wich. Erst nach dem Kriege
begann die Weltverstörung durch den Nationalsozialismus, und als erstes
sichtbares Phänomen zeitigte diese geistige Epidemie unseres Jahrhunderts
die Xenophobie: den Fremdenhaß oder zumindest die Fremdenangst. Überall
verteidigte man sich gegen den Ausländer, überall schaltete man ihn aus. All
die Erniedrigungen, die man früher ausschließlich für Verbrecher erfunden
hatte, wurden jetzt vor und während einer Reise jedem Reisenden auferlegt.
Man mußte sich photographieren lassen von rechts und links, im Profil und en
face, das Haar so kurz geschnitten, daß man das Ohr sehen konnte, man
mußte Fingerabdrücke geben, erst nur den Daumen, dann alle zehn Finger,
mußte überdies Zeugnisse, Gesundheitszeugnisse, Impfzeugnisse, polizeiliche
Führungszeugnisse, Empfehlungen vorweisen, mußte Einladungen
präsentieren können und Adressen von Verwandten, mußte moralische und
finanzielle Garantien beibringen, Formulare ausfüllen und unterschreiben in
dreifacher, vierfacher Ausfertigung, und wenn nur eines aus diesem Schock
Blätter fehlte, war man verloren.
Das scheinen Kleinigkeiten. Und auf den ersten Blick mag es meinerseits
kleinlich erscheinen, sie überhaupt zu erwähnen. Aber mit diesen sinnlosen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286