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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 306 -
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nicht genug gewesen, daß er, noch ehe die Unterschrift auf dem Vertrage trocken war, ihn schon verletzt in allen Einzelheiten. Hemmungslos schrie es Goebbels nun öffentlich über alle Dächer, daß man England in München an die Wand gedrückt. Ein großes Licht der Hoffnung war erloschen. Aber es hat geleuchtet einen Tag, zwei Tage lang und unsere Herzen erwärmt. Ich kann und will diese Tage nicht vergessen. Von der Zeit an, da wir erkannten, was in München wirklich geschehen war, sah ich paradoxerweise in England wenig Engländer mehr. Die Schuld lag an mir, denn ich wich ihnen oder vielmehr dem Gespräch mit ihnen aus, obwohl ich sie mehr bewundern mußte als je. Sie waren zu den Flüchtlingen, die jetzt in Scharen herüberkamen, großmütig, sie zeigten nobelstes Mitleid und hilfreiche Anteilnahme. Aber zwischen ihnen und uns wuchs innerlich eine Art Wand, ein Hüben und Drüben: uns war es schon widerfahren, und ihnen war es noch nicht widerfahren. Wir verstanden, was geschehen war und geschehen würde, sie aber weigerten sich noch – zum Teil gegen ihr besseres inneres Wissen – es zu verstehen. Sie versuchten trotz allem in dem Wahn zu beharren, ein Wort sei ein Wort, ein Vertrag ein Vertrag, und man könne mit Hitler verhandeln, wenn man nur vernünftig, wenn man menschlich mit ihm rede. Durch demokratische Tradition dem Recht seit Jahrhunderten verschworen, konnten oder wollten die führenden englischen Kreise nicht wahrhaben, daß neben ihnen eine neue Technik der bewußten zynischen Amoralität sich aufbaute und daß das neue Deutschland alle im Umgang der Völker und im Rahmen des Rechts jeweils gültigen Spielregeln umstieß, sobald sie ihm lästig schienen. Den klar-, den weitdenkenden Engländern, die längst allen Abenteuern abgesagt, schien es zu unwahrscheinlich, daß dieser Mann, der so rasch, so leicht so viel erreicht, das Äußerste wagen würde; immer glaubten und hofften sie, daß er sich vorerst gegen andere – am liebsten gegen Rußland! – wenden würde, und inzwischen könne man mit ihm zu irgendeiner Einigung gelangen. Wir dagegen wußten, daß das Ungeheuerlichste als selbstverständlich zu erwarten war. Wir hatten jeder das Bild eines erschlagenen Freundes, eines gefolterten Kameraden hinter der Pupille und darum härtere, schärfere, unerbittlichere Augen. Wir Geächteten, Gejagten, Entrechteten, wir wußten, daß kein Vorwand zu unsinnig, zu lügnerisch war, wenn es um Raub ging und Macht. So sprachen wir, die Geprüften und die noch der Prüfung Aufgesparten, wir, die Emigranten und die Engländer verschiedene Sprachen; ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß außer einer ganz verschwindend kleinen Zahl von Engländern wir damals die einzigen in England gewesen sind, die sich über den vollen Umfang der Gefahr keiner Täuschung hingaben. Wie seinerzeit in Österreich, war es mir auch in England bestimmt, mit zerfoltertem Herzen und einer 306
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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