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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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seine Praxis, und da wissenschaftlich seine Thesen und selbst die kühnsten seiner Problemstellungen nicht zu widerlegen waren, versuchte man seine Theorien vom Traum nach wienerischer Art zu erledigen, indem man sie ironisierte oder banalisierte zum scherzhaften Gesellschaftsspiel. Nur ein kleiner Kreis von Getreuen sammelte sich um den Einsamen zu allwöchentlichen Diskussionsabenden, in denen die neue Wissenschaft der Psychoanalyse ihre erste Formung erhielt. Noch lange ehe ich selbst des ganzen Ausmaßes der geistigen Revolution gewahr wurde, die sich langsam aus den ersten grundlegenden Arbeiten Freuds vorbereitete, hatte mich die starke, moralisch unerschütterliche Haltung dieses außerordentlichen Mannes ihm bereits gewonnen. Hier war endlich ein Mann der Wissenschaft, wie ein junger Mensch sich ihn als Vorbild träumen konnte, vorsichtig in jeder Behauptung, solange er nicht letzten Beweis und absolute Sicherheit hatte, aber unerschütterlich gegen den Widerstand der ganzen Welt, sobald sich ihm eine Hypothese in gültige Gewißheit verwandelt hatte, ein Mann, bescheiden wie nur irgendeiner für seine Person, aber kampfentschlossen für jedes Dogma seiner Lehre und bis in den Tod getreu der immanenten Wahrheit, die er in seiner Erkenntnis verteidigte. Man konnte sich keinen geistig unerschrockeneren Menschen denken; Freud wagte jederzeit auszusprechen, was er dachte, auch wenn er wußte, daß er mit diesem klaren, unerbittlichen Aussprechen beunruhigte und verstörte; nie suchte er seine schwere Position durch die mindeste – auch nur formale – Konzession zu erleichtern. Ich bin gewiß, Freud hätte ungehindert von jedem akademischen Widerstand vier Fünftel seiner Theorien aussprechen können, hätte er sich bereitgefunden, sie vorsichtig zu drapieren, ›Erotik‹ zu sagen statt ›Sexualität‹, ›Eros‹ statt ›Libido‹, und nicht unerbittlich immer die letzten Konsequenzen festzustellen, statt sie bloß anzudeuten. Aber wo es die Lehre und die Wahrheit galt, blieb er intransigent; je härter der Widerstand, um so mehr härtete sich seine Entschlossenheit. Wenn ich mir für den Begriff des moralischen Mutes – des einzigen Heroismus auf Erden, der keine fremden Opfer fordert – ein Symbol suche, sehe ich immer das schöne, männlich klare Antlitz Freuds mit den gerade und ruhig blickenden dunklen Augen vor mir. Der Mann, der nun aus seiner Heimat, der er Ruhm über die Erde und durch die Zeiten geschenkt, nach London flüchtete, war den Jahren nach längst ein alter und außerdem ein schwerkranker Mann. Aber es war kein müder Mann und kein gebeugter. Ich hatte mich im geheimen ein wenig gefürchtet, ihn verbittert oder verstört wiederzufinden nach all den quälenden Stunden, durch die er in Wien gegangen sein mußte, und fand ihn freier und sogar glücklicher als je. Er führte mich hinaus in den Garten des Londoner Vorstadthauses. »Habe ich je schöner gewohnt?« fragte er mit einem hellen Lächeln um den einstmals so strengen Mund. Er zeigte mir seine geliebten 308
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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