Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Biographien
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 311 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 311 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Bild der Seite - 311 -

Bild der Seite - 311 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Text der Seite - 311 -

haben, »jetzt, da man ihnen alles nimmt, nehme ich ihnen noch ihren besten Mann«. Ich mußte ihm recht geben, daß jeder Jude jetzt siebenmal empfindlicher geworden war, denn selbst inmitten dieser Welttragödie waren sie die eigentlichen Opfer, überall die Opfer, weil verstört schon vor dem Schlag, überall wissend, daß alles Schlimme sie zuerst und siebenfach betraf, und daß der haßwütigste Mensch aller Zeiten gerade sie erniedrigen und jagen wollte bis an den letzten Rand der Erde und unter die Erde. Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter von Woche zu Woche als die vor ihnen gekommenen. Die ersten, die am raschesten Deutschland und Österreich verlassen, hatten noch ihre Kleider, ihre Koffer, ihren Hausrat retten können und manche sogar etwas Geld. Aber je länger einer auf Deutschland vertraut hatte, je schwerer er sich von der geliebten Heimat losgerissen, um so härter war er gezüchtigt worden. Erst hatte man den Juden ihre Berufe genommen, ihnen den Besuch der Theater, der Kinos, der Museen verboten und den Forschern die Benutzung der Bibliotheken: sie waren geblieben aus Treue oder aus Trägheit, aus Feigheit oder aus Stolz. Lieber wollten sie in der Heimat erniedrigt sein als in der Fremde sich als Bettler erniedrigen. Dann hatte man ihnen die Dienstboten genommen und die Radios und Telephone aus den Wohnungen, dann die Wohnungen selbst, dann ihnen den Davidstern zwangsweise angeheftet; jeder sollte sie wie Leprakranke schon auf der Straße als Ausgestoßene, als Verfemte erkennen, meiden und verhöhnen. Jedes Recht wurde ihnen entzogen, jede seelische, jede körperliche Gewaltsamkeit mit spielhafter Lust an ihnen geübt, und für jeden Juden war das alte russische Volkssprichwort plötzlich grausame Wahrheit geworden: ›Vor dem Bettelsack und dem Gefängnis ist niemand sicher.‹ Wer nicht ging, den warf man in ein Konzentrationslager, wo deutsche Zucht auch den Stolzesten mürbe machte, und stieß ihn dann ausgeraubt mit einem einzigen Anzug und zehn Mark in der Tasche aus dem Lande, ohne zu fragen, wohin. Und dann standen sie an den Grenzen, dann bettelten sie bei den Konsulaten und fast immer vergeblich, denn welches Land wollte Ausgeplünderte, wollte Bettler? Nie werde ich vergessen, welch Anblick sich mir bot, als ich einmal in London in ein Reisebüro geriet; es war vollgepfropft mit Flüchtlingen, fast alle Juden, und alle wollten sie irgendwohin. Gleichviel, in welches Land, ins Eis des Nordpols oder in den glühenden Sandkessel der Sahara, nur fort, nur weiter, denn die Aufenthaltsbewilligung war abgelaufen, man mußte weiter, weiter mit Frau und Kind unter fremde Sterne, in fremde Sprachwelt, unter Menschen, die man nicht kannte und die einen nicht wollten. Ich traf dort einen einstmals sehr reichen Industriellen aus Wien, gleichzeitig einer unserer intelligentesten Kunstsammler; ich erkannte ihn zuerst nicht, so grau, so alt, so müde war er geworden. Schwach klammerte er sich mit beiden Händen an den Tisch. Ich fragte ihn, wohin er wollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wer 311
zurück zum  Buch Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers"
Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Die Welt von Gestern