Seite - 312 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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fragt denn heute nach unserem Willen? Man geht, wohin man einen noch läßt.
Jemand hat mir erzählt, daß man hier vielleicht nach Haiti oder San Domingo
ein Visum bekommen kann.« Mir stockte das Herz; ein alter ausgemüdeter
Mann mit Kindern und Enkeln, der zittert vor Hoffnung in ein Land zu
ziehen, das er zuvor nie recht auf der Karte gesehen, nur um dort sich weiter
durchzubetteln und weiter fremd und zwecklos zu sein! Nebenan fragte einer
mit verzweifelter Gier, wie man nach Shanghai gelangen könne, er hätte
gehört, bei den Chinesen werde man noch aufgenommen. Und so drängte
einer neben dem andern, ehemalige Universitätsprofessoren, Bankdirektoren,
Kaufleute, Gutsbesitzer, Musiker, jeder bereit, die jämmerlichen Trümmer
seiner Existenz wohin immer über Erde und Meer zu schleppen, was immer
zu tun, was immer zu dulden, nur fort von Europa, nur fort, nur fort! Es war
eine gespenstische Schar. Aber das Erschütterndste war für mich der
Gedanke, daß diese fünfzig gequälten Menschen doch nur einen versprengten,
einen ganz winzigen Vortrab darstellten der ungeheuren Armee der fünf, der
acht, der vielleicht zehn Millionen Juden, die hinter ihnen schon im Aufbruch
waren und drängten, all dieser ausgeraubten, im Kriege dann noch
zerstampften Millionen, die warteten auf die Sendungen von den
Wohltätigkeitsinstituten, auf die Genehmigungen der Behörden und das
Reisegeld, eine gigantische Masse, die, mörderisch aufgescheucht und
panisch fliehend vor dem hitlerischen Waldbrand, an allen Grenzen Europas
die Bahnhöfe belagerte und die Gefängnisse füllte, ein ganz ausgetriebenes
Volk, dem man es versagte, Volk zu sein, und ein Volk doch, das seit
zweitausend Jahren nach nichts so sehr verlangte, als nicht mehr wandern zu
müssen und Erde, stille, friedliche Erde unter dem rastenden Fuß zu fühlen.
Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten
Jahrhunderts war, daß, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten
und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre
Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewußt, wofür sie litten: für ihren
Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese
von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie
lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer
der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und
besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und
Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, preßten sie die ihnen heilige
Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so
glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte,
blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine
irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben
konnte. Solange die Religion sie zusammenschloß, waren sie noch eine
Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286