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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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fragt denn heute nach unserem Willen? Man geht, wohin man einen noch läßt. Jemand hat mir erzählt, daß man hier vielleicht nach Haiti oder San Domingo ein Visum bekommen kann.« Mir stockte das Herz; ein alter ausgemüdeter Mann mit Kindern und Enkeln, der zittert vor Hoffnung in ein Land zu ziehen, das er zuvor nie recht auf der Karte gesehen, nur um dort sich weiter durchzubetteln und weiter fremd und zwecklos zu sein! Nebenan fragte einer mit verzweifelter Gier, wie man nach Shanghai gelangen könne, er hätte gehört, bei den Chinesen werde man noch aufgenommen. Und so drängte einer neben dem andern, ehemalige Universitätsprofessoren, Bankdirektoren, Kaufleute, Gutsbesitzer, Musiker, jeder bereit, die jämmerlichen Trümmer seiner Existenz wohin immer über Erde und Meer zu schleppen, was immer zu tun, was immer zu dulden, nur fort von Europa, nur fort, nur fort! Es war eine gespenstische Schar. Aber das Erschütterndste war für mich der Gedanke, daß diese fünfzig gequälten Menschen doch nur einen versprengten, einen ganz winzigen Vortrab darstellten der ungeheuren Armee der fünf, der acht, der vielleicht zehn Millionen Juden, die hinter ihnen schon im Aufbruch waren und drängten, all dieser ausgeraubten, im Kriege dann noch zerstampften Millionen, die warteten auf die Sendungen von den Wohltätigkeitsinstituten, auf die Genehmigungen der Behörden und das Reisegeld, eine gigantische Masse, die, mörderisch aufgescheucht und panisch fliehend vor dem hitlerischen Waldbrand, an allen Grenzen Europas die Bahnhöfe belagerte und die Gefängnisse füllte, ein ganz ausgetriebenes Volk, dem man es versagte, Volk zu sein, und ein Volk doch, das seit zweitausend Jahren nach nichts so sehr verlangte, als nicht mehr wandern zu müssen und Erde, stille, friedliche Erde unter dem rastenden Fuß zu fühlen. Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, daß, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewußt, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, preßten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben konnte. Solange die Religion sie zusammenschloß, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so 312
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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