Seite - 316 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 316 -
Text der Seite - 316 -
weiträumiges, auf lange Frist hin angelegtes Werk zu beginnen. Gerade der
Unmut gab mir nun dazu den Mut. Ich zog mich nach Bath zurück und gerade
nach Bath, weil diese Stadt, wo viele der Besten von Englands glorreicher
Literatur, Fielding vor allem, geschrieben, getreulicher und eindringlicher, als
jede sonstige Stadt Englands ein anderes, friedlicheres Jahrhundert, das
achtzehnte, dem beruhigten Blicke vorspiegelt. Aber wie schmerzlich
kontrastierte diese linde, mit einer milden Schönheit gesegnete Landschaft
nun mit der wachsenden Unruhe der Welt und meiner Gedanken! So wie 1914
der schönste Juli war, dessen ich mich in Österreich erinnern kann, so
herausfordernd herrlich war dieser August 1939 in England. Abermals der
weiche, seidigblaue Himmel wie ein Friedenszelt Gottes, abermals dies gute
Leuchten der Sonne über den Wiesen und Wäldern, dazu eine
unbeschreibliche Blumenpracht – der gleiche große Friede über der Erde,
während ihre Menschen rüsteten zum Kriege. Unglaubwürdig wie damals
schien der Wahnsinn angesichts dieses stillen, beharrlichen, üppigen Blühens,
dieser atmend sich selbst genießenden Ruhe in den Tälern von Bath, die mich
in ihrer Lieblichkeit an jene Badener Landschaft von 1914 geheimnisvoll
erinnerten.
Und wieder wollte ich es nicht glauben. Wieder rüstete ich wie damals zu
einer sommerlichen Fahrt. Für die erste Septemberwoche 1939 war der
Kongreß des Penklubs in Stockholm angesetzt, und die schwedischen
Kameraden hatten mich, da ich amphibisches Wesen doch keine Nation mehr
repräsentierte, als Ehrengast geladen; für Mittag, für Abend war in jenen
kommenden Wochen jede Stunde schon im voraus von den freundlichen
Gastgebern bestimmt. Längst hatte ich meinen Schiffsplatz bestellt, da jagten
und überjagten sich die drohenden Meldungen von der bevorstehenden
Mobilisation. Nach allen Gesetzen der Vernunft hätte ich jetzt rasch meine
Bücher, meine Manuskripte zusammenpacken und die britische Insel als ein
mögliches Kriegsland verlassen sollen, denn in England war ich Ausländer
und im Falle des Krieges sofort feindlicher Ausländer, dem jede denkbare
Freiheitsbeschränkung drohte. Aber etwas Unerklärbares widersetzte sich in
mir, mich wegzuretten. Halb war es Trotz, nicht nochmals und nochmals
fliehen zu wollen, da das Schicksal mir doch überallhin nachsetzte, halb auch
schon Müdigkeit. »Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht«, sagte ich mir
mit Shakespeare. Will sie dich, so wehre dich, nahe dem sechzigsten Jahre,
nicht länger gegen sie! Dein Bestes, dein gelebtes Leben, erfaßt sie doch nicht
mehr. So blieb ich. Immerhin wollte ich meine äußere bürgerliche Existenz
zuvor noch möglichst in Ordnung bringen, und da ich die Absicht hatte, eine
zweite Ehe zu schließen, keinen Augenblick verlieren, um von meiner
zukünftigen Lebensgefährtin nicht durch Internierung oder andere
unberechenbare Maßnahmen für lange getrennt zu werden. So ging ich jenes
316
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286