Seite - 318 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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meine Sachen zusammen. Wenn sich bewahrheitete, was ein Freund in hoher
Stellung mir vorausgesagt, so sollten wir Österreicher in England
den Deutschen zugezählt werden und hatten die gleichen Einschränkungen zu
erwarten; vielleicht durfte ich abends nicht mehr schlafen im eigenen Bett.
Wieder war ich eine Stufe herabgefallen, seit einer Stunde nicht bloß der
Fremde mehr in diesem Land, sondern ein ›enemy alien‹, ein feindlicher
Ausländer; gewaltsam verbannt an eine Stelle, an der mein pochendes Herz
nicht stand. Denn war eine absurdere Situation einem Menschen zu erdenken,
der längst ausgestoßen war aus einem Deutschland, das ihn um seiner Rasse
und Denkart willen als widerdeutsch gebrandmarkt, als nun in einem anderen
Land auf Grund eines bürokratischen Dekrets einer Gemeinschaft
zugezwungen zu werden, der er als Österreicher doch niemals zugehört? Mit
einem Federstrich hatte der Sinn eines ganzen Lebens sich in Widersinn
verwandelt; ich schrieb, ich dachte noch immer in deutscher Sprache, aber
jeder Gedanke, den ich dachte, jeder Wunsch, den ich fühlte, gehörte den
Ländern, die in Waffen standen für die Freiheit der Welt. Jede andere
Bindung, alles Vergangene und Gewesene war zerrissen und zerschlagen, und
ich wußte, daß alles nach diesem Kriege abermaligen Anfang bedeuten
müsse. Denn die innerste Aufgabe, an die ich alle Kraft meiner Überzeugung
durch vierzig Jahre gesetzt, die friedliche Vereinigung Europas, sie war
zuschanden geworden. Was ich mehr gefürchtet als den eigenen Tod, den
Krieg aller gegen alle, nun war er entfesselt zum zweitenmal. Und der ein
ganzes Leben leidenschaftlich sich bemüht um Verbundenheit im
Menschlichen und im Geiste, empfand sich in dieser Stunde, die
unverbrüchliche Gemeinschaft forderte wie keine andere, durch dieses jähe
Ausgesondertsein unnütz und allein wie nie in seinem Leben.
Noch einmal wanderte ich, um einen letzten Blick dem Frieden nachzutun,
hinunter zur Stadt. Sie lag still im Mittagslicht und schien mir nicht anders als
sonst. Die Menschen gingen mit ihren gewöhnlichen Schritten ihren
gewöhnlichen Weg. Sie eilten nicht, sie scharten sich nicht gesprächig
zusammen. Sonntäglich ruhig und gelassen war ihr Gehaben, und einen
Augenblick fragte ich mich: wissen sie es am Ende noch nicht? Aber sie
waren Engländer, geübt, ihr Gefühl zu bezähmen. Sie brauchten nicht Fahnen
und Trommeln, nicht Lärm und Musik, um sich zu bestärken in ihrer zähen,
unpathetischen Entschlossenheit. Wie anders war es in jenen Julitagen 1914
in Österreich gewesen, aber wie anders als der junge unerfahrene Mensch von
damals war heute auch ich selbst, wie beschwert mit Erinnerungen! Ich
wußte, was Krieg bedeutete, und indem ich auf die gefüllten, blanken
Geschäfte blickte, sah ich in einer heftigen Vision jene von 1918 wieder,
ausgeräumt und leer wie mit aufgerissenen Augen einen anstarrend. Ich sah
wie in einem wachen Traum die langen Schlangen der verhärmten Frauen vor
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286