1. Dezember - Paradies und Biedermeier#
Seit Adam und Eva sehnen sich die Menschen nach der Rückkehr in das
verlorene Paradies. Alle Jahre wieder gelingt sie - zumindest
ansatzweise. Festtheoretiker meinen, dass Feste im Allgemeinen und
Weihnachten im Besonderen nicht von dieser Welt seien. Das Ideal der
Weihnachtszeit ist ein Paradies ohne Sorgen, Streit und Sündenfall.
Tatsächlich lässt sich eine Beziehung zwischen den biblischen
Stammeltern und Weihnachtsbräuchen finden, und das seit langem. Der
Apostel Paulus stellt dem "alten" den "neuen" Menschen gegenüber. Im 5.
Jahrhundert wird Jesus zum positiven Gegenbild des "Erdlings" Adam. Den
Namen "Eva" deuten Theologen zum "Ave (Maria)" um:
"Maria hat uns wiederbracht, was Eva hat verloren."
Anders als in der Lateinischen Kirche, welche die Schuld und Adam als
Antityp zu Christus betont, nannte die byzantinische die Stammeltern im
Messkanon an erster Stelle.
Byzanz sah sie im Zusammenhang mit den "Gerechten"
des Alten Testaments, ihr Fest wurde am 1. Adventssonntag begangen.
Darstellungen aus den ersten christlichen Jahrhunderten zeigen Adam und Eva
unter dem Paradiesbaum. Als Symbol der verbotenen Frucht drängt sich der Apfel,
das weit verbreitete Sinnbild der Unsterblichkeit, Liebe und "weltlichen Verlockungen"
geradezu auf. In der Hand Christi wandelt er sich zum Zeichen der Weltherrschaft und der
überwundenen Erbsünde. Seit dem Mittelalter ging Aufführungen des Weihnachtsspiels
das Paradiesspiel voraus. Ein Nadelbaum, mit Äpfeln behängt, stellte den Paradiesbaum dar.
1687 wunderte sich ein Reisender, der in Tirol ein solches Umzugsspiel sah:
"... und setzte einen baum mit rothen früchten behangen mit in den weg und sich darneben. Nach
ihm kam ein teufelgen geschlichen in gestalt eines crocodils, das legte sich an den
baum an, wohin auch ein mägden mit langen und zufeldte geschlagenen haaren kam
... daraus wir aber noch nicht klug werden konnten, dass es eine
vorstellung der historie, da die schlange Evam verführet, seyn sollte."
Freilich verläuft keine direkte Verbindungslinie von diesem
Brauchrequisit zum - mit Äpfeln und roten Kugeln geschmückten - Weihnachtsbaum,
aber die Tendenz lässt sich erkennen.
Das besinnliche Fest lag im Zeitgeist. Kaiser Joseph II., dessen
Reformen in Religionssachen bei Klerus und Untertanen auf erbitterten
Widerstand gestoßen waren, war seit 1790 tot. In die 43-jährige
Regentschaft des "guten Kaisers Franz" fielen nach Kriegen und Kongress
eine Phase der Ruhe und Konsolidierung, aber auch Überwachungs- und
Zensurmaßnahmen. Im Biedermeier erreichten Handel und Industrie,
religiöses und kulturelles Leben seit langem nicht mehr gekannte Höhen.
Bis 1820 wirkte der spätere Stadtpatron Clemens Maria Hofbauer in Wien.
Er prägte das katholische Leben weit über seinen Tod hinaus. Der
Seelsorger machte dem gläubigen Volk alles schmackhaft, was die
Aufklärung verpönt hatte. Er gestaltete seine Gottesdienste im Geist der
Romantik feierlich, mit Musik, Kerzen und Blumen. Zu seinen Anhängern
zählten Intellektuelle und prominente Kongress-Teilnehmer ebenso wie
einfache Gläubige. Hofbauer ging es um kirchliche und staatliche
Restauration. Dies traf sich mit dem Stil des Haus-, Hof und
Staatskanzlers Clemens Wenzel Metternich, den der
Kaiser 1821 mit unbeschränkten Vollmachten ausstattete. Der Polizei- und
Zensurhofstelle musste jedes gedruckte
Wort - nicht nur Theaterstücke und literarische Werke
vorgelegt werden, vom Lexikon bis zur Ballkarte, von der Grabinschrift
bis zum Kupferstich. Ein dichtes Netz von Spitzeln überwachte sogar
Stammtischgespräche. Kein Wunder, dass sich die Bürger - wohlhabend,
aber von der Politik ausgeschlossen - in ihre kleine Welt zurückzogen.
Häuslichkeit und Wohnen spielten wie in kaum einer anderen Zeit eine Rolle.
Man traf sich im Freundeskreis, spielte
Hausmusik - es war die Zeit Schuberts und Beethovens -
und pflegte die Geselligkeit. Gediegene Möbel, Sammlungen von Bildern,
Gläsern und Porzellanfiguren dienten der eigenen Freude ebenso wie der
Repräsentation. Ideale Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer
bisher nicht gekannten Feierkultur waren gegeben.
Die Behaglichkeit lässt die industrielle Revolution leicht übersehen.
Doch erst ihre Produkte ermöglichten die Ausstattung des trauten Heims
als Schauplatz neuer familiärer Feiern. 1804 eröffnete Josef Danhauser
die erste Wiener Möbelfabrik, 1842 kam Michael Thonet nach Wien und
begann die Serienherstellung von Bugholzmöbeln. Zwischen 1837 und 1841
stieg die Zahl der Fabrikanten in Wien um 164 Prozent. Die Gesellschaft
spaltete sich zunehmend in Kleinbürger und Großbürger, die genügend Geld
zur Verfügung hatten, um einen neuen Lebensstil zu pflegen. 1822 erfand
ein Wiener das Streichholz. Erst die Erfindung der Stearin- (1818) und
Paraffinkerzen (1837) und deren industrielle Produktion seit den
dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts machten den leuchtenden
Weihnachtsbaum für breitere Kreise erschwinglich. Noch jüngeren Datums
ist der verzierte Glasschmuck. Er konnte in großem Stil geblasen werden,
sobald Gas zur Verfügung stand (in der Hauptproduktionsstätte Lauscha in
Thüringen ab 1867). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte
man in Nürnberg "Leonische Waren" her. Die hauchdünnen gedrehten Fäden
dienten zum Umspinnen der geblasenen Figuren. Im nordböhmischen Gablonz
(Jablonec nad Nisou) verarbeitete man seit dem 18. Jahrhundert Glassteine
zu Modeschmuck. Als der Export im 19. Jahrhundert stagnierte,
fertigte man aus Glasperlen und winzigen
Röhrchen filigrane Dekorationen für den Weihnachtsbaum an.
"Wenn der Erwachsene seiner Kindheit gedenkt, so erscheint sie ihm als
eine glückliche Zeit, in der man sich des Augenblicks freute und
wunschlos der Zukunft entgegenging. Und darum beneidet er die Kinder",
schrieb Sigmund Freud. Wenn Weihnachten "nicht von dieser Welt" ist,
dann wohl aus der Kinderwelt. Alles ist anders, nicht verkitscht,
sondern verzaubert: eine Welt der Geborgenheit, voller Zuwendung und
Begegnung. So, wie man sie aus den Kindertagen in Erinnerung hat.